"In den wilden Bergschluchten widerhallt ihr Pfeifen". Otto Meister


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fünfhundert Briefe, drei Tagebücher und viele Lageberichte an die Firma Sulzer. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit, alles wurde fortlaufend aufgezeichnet: Jahrzehntelang verschickte er Dutzende von Briefen und Fotos, zunächst an die Eltern, dann an den Bruder Edy und seine Schwägerin Emmy, mit denen er besonders verbunden war, und in den letzten Jahren an seinen Sohn Freddy, der in Zürich Architektur studierte.

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      Emil Meister und seine Tochter Lorly, Zürich Paradeplatz, 1898.

      Eine Jugend im Herzen von Zürich

      Ein strenger, fast nüchterner Mann, schlicht gekleidet, mit einfachem Lebensstil, präzise, pünktlich, ausgeglichen, vernünftig, kurz, ein Schweizer aus einer anderen Zeit, der mit beiden Füssen auf dem Boden stand: So beschrieb ihn sein Sohn Alfred Jutaro Meister, geboren 1913 in Mitsukaido, Japan, gestorben 1987 in Locarno, Schweiz.

      Ottos Vater, Emil Meister (1847–1921), war ein Nachkomme der Familie Meister aus Zürich, deren Stammbaum bis ins Jahr 1400 zurückverfolgt werden kann.2 Ottos Vater hatte 1881 ein kleines Bijouteriegeschäft am Münsterhof 16 eröffnet, das sich ab 1897 am Paradeplatz befand. Das Unternehmen wurde mit der Zeit auf drei Verkaufsstellen erweitert, unter anderem um ein Uhrengeschäft, das heute an der Bahnhofstrasse von den Enkeln und Urenkeln weitergeführt wird. Die Mutter, Elisa Hess von Wald (1852–1884), die aus einer wohlhabenden, alteingesessenen Familie des Zürcher Bürgertums stammte, starb wenige Monate nach der Geburt des achten Kindes. Emil heiratete 1888 in zweiter Ehe Julie Aeschlimann von Burgdorf (1861–1937).

      Otto, der älteste der neun Brüder, die das Kleinkindalter überlebten, zeigte keinerlei Neigung, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen, wohl wegen seines Unabhängigkeitsdrangs und jener Abenteuerlust, die ihn in den Orient führen sollten. Bereits in den ersten Jahren nach dem Studium zum Bauingenieur am Polytechnikum Zürich, das er 1896 abschloss, sammelte er wichtige Arbeitserfahrungen: Für die Zürcher Firma Zschokke war er zunächst kurze Zeit in Zell und Aarau und dann bis 1899 bei einem Brückenbauprojekt in Randers, Dänemark, beschäftigt. Schon aus dieser Zeit existiert ein in Stenographie abgefasstes minuziöses Tagebuch. Von 1899 bis 1903 arbeitete er in Spanien, auf den Trockendocks im Seearsenal von Carraca in der Nähe von Cadiz. Als im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung in Europa in den Kolonialgebieten bauliche Grossprojekte entstanden, sah Otto Meister darin neue Möglichkeiten von ganz anderen Dimensionen für sich und verliess Europa in Richtung Ferner Osten. Sein Ziel war die Grossbaustelle der französischen Eisenbahnlinie im heutigen Vietnam und China.

      Zwischen Arbeit und Abenteuer: Bahnbau im südchinesischen Bergland

      Die Reise an Bord des Motorschiffs «Jarra», das am 16. Juni 1903 von Marseille Richtung Indischer Ozean in See gestochen war, dauerte zwei beschwerliche Monate (u.a. durch den Suezkanal, an dem noch Arbeiten in Gang waren) bis Hanoi, von wo ihn ein Schaufelraddampfer den Roten Fluss hinauf bis nach Lào Cai brachte.

      Lào Cai war Umschlagplatz für Menschen, Material und Versorgungsgüter zwischen der praktisch fertiggestellten Eisenbahnlinie Hanoi–Lào Cai und der neuen Teilstrecke Lào Cai–Yunnansen (Kunming). Von dort aus erreichte er mit schwer beladenen Mauleseln und auf kleinen Yunnan-Pferden – er, der grossgewachsene Schweizer! – Mitte August 1903 schliesslich Mong-tse, wo der französischer Konsul Auguste François residierte. Damit begann sein Einsatz als Ingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie Lào Cai–Yunnansen für die Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan. Frankreich hatte 1898 die Rechte erhalten, in Yunnan Eisenbahnlinien zu bauen, in der Provinz Handel zu treiben und Konsulatssitze einzurichten. Das Eisenbahnprojekt war lanciert worden, um das französische Tonkin mit dem Süden Chinas zu verbinden und so den Handel mit Indochina zu fördern und das Erzvorkommen in Yunnan für Frankreich nutzen zu können. Letzteres stellte sich als Fehlschlag heraus, denn die Erzlager erwiesen sich als nicht sehr ergiebig, weder in Bezug auf die Qualität noch die Quantität. Neben Tee war in jenen Jahren Opium die einzige Ware, für die sich für der Transport wirklich lohnte.

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      Postkarte aus Madrid mit der Ankündigung seiner Stelle bei der Compagnie Française des chemins de fer de l’Indo-Chine et du Yunnan, 23. April 1903.

      1903 war die Linienführung der französischen Eisenbahnlinie also bereits abgesteckt, und sie wurde mit nur leichten Abweichungen auch danach gebaut. Es war keine einfache Route, wenn sie auch weniger unwegsam war als die von den Engländern entworfene: Das Gebiet war aufgrund des feucht-heissen Klimas besonders im südlichen Teil unerschlossen, wild und beinahe unbewohnt. Die Eisenbahnlinie führte durch tiefe, verwinkelte Gebirgsschluchten, in denen sich oft auch die Karawanen mit dem Nachschub verirrten. Man musste Wege anlegen, um das Material zu transportieren, provisorische Brücken oder Flosse bauen, um Flüsse und Sümpfe überwinden zu können. Die geografischen Gegebenheiten erschwerten auch die Versorgung: Da die Gegend praktisch unbewohnt war, konnte nichts vor Ort gekauft werden, und das gesamte Material musste mit Trägern und Lasttieren herangeschafft werden.

      Als Meister im provisorischen Camp von A-Pet-Soun in Südyunnan angelangt war, übernahm er den ihm zugeteilten Abschnitt der Eisenbahnlinie. Dieser lag in einem gesundheitlich höchst problematischen Gebiet, heimgesucht von unzähligen Mücken, sogenannten Beri-Beri, und periodisch wiederkehrenden Epidemien, die immer wieder viele Menschenleben hinwegrafften. Während der Regenzeit herrschte im südlichen Teil der Region aufgrund der Nähe zu den Flüssen Mekong (auch Roter Fluss genannt) und dem Nanxi Hé ein tropisches Klima, «heiss, feucht und ungesund». Diese klimatischen Bedingungen prägten die Flora und die Fauna, die Topografie und damit auch die Arbeits- und Lebensbedingungen. Unvorstellbar hart waren letztere insbesondere für die Arbeiter, die nicht lange durchhielten und laufend abgelöst werden mussten. Meister schildert all das sehr farbig, auch das Verhältnis zwischen den Bauunternehmern und den Ingenieuren und wiederum deren schwierige Beziehungen zu den chinesischen Arbeitern. Angesichts der Umstände verwundert es nicht, dass viele Arbeiter zu fliehen versuchten, zumal sie oft aus fernen Regionen des riesigen chinesischen Reichs stammten.

      Die Lebensbedingungen verbesserten sich im Laufe dieser Jahre, je weiter man beim Bau gegen Norden vordrang; das Klima in den Bergen war frischer und die Luft weniger schwül. Nachdem Otto Meister zum Ingenieur Sektionschef ernannt worden war, wurde die Arbeit für ihn interessanter. Das galt für die Planung ebenso wie für die Leitung der komplexen Projekte von Tunnels und Brücken, die in jenem unwegsamen Gebiet mit all den Schluchten und reissenden Flüssen eine besondere Herausforderung darstellten. Darunter war auch die heute zum Wahrzeichen gewordene sogenannte «Menschen-Brücke».

      Daneben berichtet Meister in seinen Briefen von Aufständischen, Banditen und Dieben aller Art. Und von Generälen oder Präfekten, die in vollem Pomp vorbeizogen – auf prunkvollen Sänften mit grossen roten Sonnenschirmen und einem Gefolge von Offizieren und Dienern mit reich verzierten Uniformen und seltsam geformten Hüten – und auf ihrem Weg eine Reihe von abgehauenen Köpfen zurückliessen, die sie in den Strassen der Stadt an Stangen aufspiessen oder an der Stadtmauer in Holzkäfigen aufhängen liessen.

      Gegen Ende der Bauzeit verfolgte die chinesische Regierung zunehmend das Ziel, das Monopol der ausländischen Eisenbahngesellschaften zu brechen, sodass Angestellte, deren Verträge abgelaufen waren, durch chinesische Arbeitskräfte ersetzt wurden. Die chinesische Revolution von 1900–1911, angeführt vom ersten grossen chinesischen Revolutionsführer Sun-Yat-Sen, führte das Ende der Manchu-Dynastie herbei und steht in historischem Zusammenhang mit den Volkserhebungen 1905 in Indien (gegen die Engländer), 1905 in Russland, 1907 in der Türkei und 1908 in Persien. Mit dem Fall der Manchu-Dynastie und der Entmachtung der im gesamten, riesigen Gebiet stationierten Regierungsbeamten wurde das Verwaltungssystem, einschliesslich des Eisenbahnsektors, von der Krise erfasst. In diesem administrativen und politischen Chaos entschloss sich Otto Meister, China zu verlassen.

      Japan, die grosse Liebe

      Mit Sicherheit hielt sich Otto Meister ab Januar 1911 in Tokio auf. In einem Brief aus diesem Jahr schrieb er an seinen Vater, er warte in Tokio auf eine Antwort aus Berlin bezüglich eines Arbeitsangebots. Gleichzeitig spielte er


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