"In den wilden Bergschluchten widerhallt ihr Pfeifen". Otto Meister


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Realität auswirken sollte. Der aus Lausanne gebürtige Ceresole erwarb an der ETH Zürich ein Ingenieurdiplom und unterrichtete von 1910 bis 1913 in Hawaii, wo er Joseph Rock kennenlernte. Von 1913 bis 1914 arbeitete er in Kobe als Ingenieur für die Firma Sulzer und war ein Kollege von Otto Meister. Meister und Rock kannten ihn also beide, und beide schätzten seine Freundschaft. Der Name Pierre Ceresole taucht in der Korrespondenz zwischen Meister und Rock immer wieder auf. 1925 schrieb Meister an Rock: «Er ist nun Sekretär der Zivildienst-Bewegung, einer pazifistischen Organisation, die versucht, den Militärdienst durch etwas Friedlicheres zu ersetzen. Ich fürchte, er wird keinen grossen Erfolg haben im Moment, da die Welt noch nicht fortschrittlich genug eingestellt ist.»

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      Blick von einem Schiff auf den Huangpu-Fluss, an dem die Uferpromenade Bund (Waitan) liegt.

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      Das East-Lancastershire-Musikkorps, Shanghai 1933.

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      Strassenszene, Shanghai 1933.

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      Red Joss House, Shanghai 1927.

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      Avenue Joffre (Huaihai Lu) bei Nacht, Shanghai 1933.

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      Am französischen Nationalfeiertag in Shanghai, 14. Juli 1933.

      1937 reiste Ceresole nach einem Aufenthalt in Indien, wo er Gandhi getroffen hatte, über China und die USA nach Europa zurück. Im Tagebuch wird er als einer der Freunde erwähnt, die Meister in seinen letzten Lebenstagen besuchten.

      Die letze Reise

      Das Tagebuch, das Meister zwischen Januar und April 1937 führte, lässt seine Krankheit erahnen: Er litt unter Herzproblemen, musste seinen Arbeitsrhythmus verlangsamen, durfte nicht mehr ausreiten und fühlte sich oft niedergeschlagen.

      Als ihm klar wurde, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, beeilte er sich, die wirtschaftliche Zukunft seiner Familie abzusichern. Es existiert eine Kopie des Testaments, das er ein Jahr vor seinem Tod verfasste und ordnungsgemäss beim Konsulat von Shanghai eintragen liess. Beim Begräbnis wurde sein Sarg von sechs uniformierten Mitgliedern des Shanghai Volunteers Corps getragen, eine Ehre, die deutlich macht, wie wichtig sein Beitrag zur Verteidigung der ausländischen Konzessionen von Shanghai in den Jahren 1925 und 1927 gewesen war und wie sehr seine jahrelange, unablässige Mitarbeit geschätzt wurde. Otto Meisters Grab befindet sich auf dem heutigen Song-Ching-Ling-Friedhof.

      Das grosse China faszinierte Otto Meister aufgrund all seiner Widersprüche und vor allem seiner unendlichen Möglichkeiten. Aber genauso mit Japan und dessen Tempeln, Parkanlagen, Bergen und alten Traditionen fühlte er sich sehr verbunden. Im Laufe der Jahre hatte Otto das Wesen und die Seele des Volks der aufgehenden Sonne ebenso wie die Bevölkerung Chinas kennen und schätzen gelernt. Mit Chiyo Ishizuka (der Name bedeutet «langes Leben», und tatsächlich starb Chiyo 1982 im Alter von 96 Jahren) lebte er bis zu seinem Tod am 28. März 1937. Im Juli des gleichen Jahres fielen die japanischen Truppen in Shanghai ein. Chiyo verbrachte eine schwere Zeit in Shanghai, und schliesslich war sie gezwungen, nach Japan zurückzukehren, da die chinesische Stadtbevölkerung sich an den japanischen Einwohnern rächte.

      Sohn Freddy hing sehr an seiner Mutter – der Vater war oft auf langen Geschäftsreisen –, und als Otto ihn mit vierzehn Jahren in die Schweiz brachte, litt er unter der Trennung. Vor dem Vater hatte er grossen Respekt, auch wenn er diesen als eher distanziert erlebte. Einerseits brachte Otto seinen Sohn in die Schweiz, um ihm eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, und andererseits, weil China in jenen Jahren aufgrund der politischen Lage mit ihren revolutionären Wirren äusserst gefährlich war. Der Junge war auf Schweizer Boden sicherer. Chiyo schrieb dem Sohn regelmässig aus Japan, doch der Zweite Weltkrieg setzte diesem Briefwechsel ein Ende. Erst nach Kriegsende stellte das Rote Kreuz wieder einen Kontakt her. 1981 reiste Freddy mit seiner Tochter Sylvia Meister nach Japan, wo er seine Mutter wenige Monate vor ihrem Tod ein letztes Mal sah. Sie starb in Oita (Kyushu), 45 Jahre nach Otto Meister.

      Otto Meister

      «In den wilden Bergschluchten

      widerhallt ihr Pfeifen»

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      Otto Meister in Shanghai, 18. November 1931.

       Zu den Texten von Otto Meister

      Von Paul Hugger

      Der erste Text von Otto Meister, ein Bericht über den Bau der Yunnan-Bahn, dessen Adressat unbekannt ist – vermutlich war es ein mit der Bahntechnik Vertrauter –, hat zunächst einen dokumentarischen Wert, was das Technische betrifft. Da beschreibt ein Ingenieur, der selber am Bau beteiligt war, das Werden einer Eisenbahnlinie in den teilweise unwegsamen Gebirgsregionen Südostasiens, und zwar zu einer Zeit, als solche Texte selten waren. Der Bericht skizziert das landschaftliche Umfeld, zeigt die schwierigen Bedingungen der Realisierung auf, in technischer, geologischer, klimatischer und menschlicher Hinsicht. Er geht dabei weit über das bloss Statistisch-Numerische und rein Technische hinaus. Entsprechende Informationen werden zwar am Anfang gegeben, aber dann erhalten wir Einblicke in die Arbeitsund Lebensverhältnisse der am Bahnbau Beschäftigten, die Risiken, die sie eingingen, und man spürt, dass hier ein Ingenieur schreibt, den nicht nur die materiellen Seiten interessierten, sondern dem eine echte Anteilnahme an menschlichen Schicksalen eignete, auch wenn einmal das unselige Wort vom «Menschenmaterial» auftaucht, einer damaligen Usanz entsprechend. Das Ganze endet mit einer Würdigung der Ästhetik einer solchen Eisenbahnlinie mit ihren Tunnels und Brücken, wie sie auch im entsprechenden Fotoalbum Meisters aufscheint.

      Der zweite Text – «Die Kulis starben auch schon wie die Fliegen» – besteht aus Briefen, die Meister seinen Eltern und Geschwistern sandte. Aus ihnen entsteht ein farbiges und eindrückliches Bild vom Bahnbau in Südchina. Hier wirkt die Sprache viel direkter und persönlicher als in seinem offiziellen Bericht, zumal Meister einen regen schriftlichen Kontakt mit den Seinen in Zürich unterhielt und einen sehr anschaulichen, detailreichen und präzisen Stil schreibt, um den ihn wohl mancher moderne Ingenieur beneiden dürfte. Die Texte schildern die Mühsal der Anreise durch das tropische und subtropische Bergland und erhellen die Lebens- und Arbeitsbedingungen im südchinesischen Grenzgebiet mit all ihren Wechselfällen. Wir erfahren Dinge über den Alltag in diesem damals sonst kaum beschriebenen Teil Chinas, was die Briefe besonders wertvoll und eigentlich einzigartig macht.7 Wir haben die Passagen darum nach dem Baubericht als eigenständigen Textkorpus angeführt. Durch das tropische Klima und durch Beschädigungen auf der langen Reise nach Europa sind leider einige Stellen unleserlich geworden. Die Transkription beruht auf Kopien der Originale. Der Text gibt die orthografische Originalversion wieder; wir haben lediglich offensichtliche Flüchtigkeitsfehler korrigiert. Dagegen wurde die Interpunktion, wo es nötig war, vervollständigt. Die Zwischentitel stammen vom Herausgeber.

      Der dritte Text – «‹Die ganze Nacht hörte das Geknatter nicht auf.› Mit dem Schiff auf dem Jangtsekiang während der Bürgerkriegswirren 1929» – von Otto Meister, den wir integral wiedergeben, wurde am 4. Februar 1930 an seinen damaligen Arbeitgeber, die Gebrüder Sulzer in Winterthur, gesandt. Er führt mitten in die Bürgerkriegswirren, wie sie sich Ende 1929 im Zentrum Chinas anbahnten. Trotz den hier beschriebenen kriegerischen Auseinandersetzungen brach der eigentliche Kampf erst im Mai 1930 aus und endete am 4. November des gleichen Jahres. Die Kuomintang als Koalition war auseinandergebrochen, und die einstigen Verbündeten waren zu Gegnern geworden, d.h. Tschiang Kai Schek stand seinen früheren Waffengefährten, den «warlords» Yan Xishan, Feng Yuxiang und Li Zougren, gegenüber. Aus den


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