"In den wilden Bergschluchten widerhallt ihr Pfeifen". Otto Meister
Ende ist auch die Ausreise aus Mexiko nicht einfach:
«Ferner erfuhr ich von Herrn Z., dass ich ohne einen Pass weder aus Mexico heraus- noch nach Guatemala hineinkäme, Ich wies triumphierend meinen 20-fränkigen Pass von San Francisco vor, erweckte damit aber nur ein mitleidiges Lächeln & wurde zu meinem Ingrimm bedeutet, dass der hier ganz wertlos sei. Es sei ein Spezialpass nötig vom hiesigen guatemaltekischen Konsul; denn der müsse auch gelebt haben. Was war da zu machen! Also hin zu ihm! Wir trafen auch richtig den Herrn Konsul in seinem Plättlibodenbudeli, zu ebener Erde, in Hemd & Hosen, in einer ‹Mecedora› (Schaukelstuhl) bedächtig seine Cigarette rauchend. Er war übrigens sehr höflich, nett & billig, 1 Peso nur. Nun noch auf die ‹Jefatura› (so etwas wie ein Polizeibureau), wo der Pass gestempelt wurde.»
Zwei Monate lang war Meister von Insekten, vor allem Mosquitos, geplagt worden. Als er in Panama ankam, fand er das Gebiet des Kanals wie durch ein Wunder frei von Mücken vor: Die Amerikaner hatten bei der Trockenlegung das berühmte DDT eingesetzt und dabei ganze Arbeit geleistet. Während der jahrelangen Bauarbeiten waren Tausende von Arbeitern – man spricht von 25 000 – gestorben, ein Grossteil an Gelbfieber und Malaria, das von diesen Mücken übertragen wird. Überall herrschte hektische Geschäftigkeit, und die Arbeiten wurden mit grösster Eile vorangetrieben, um den Kanal so schnell wie möglich für die Schifffahrt freizugeben, wenigstens provisorisch. Die offizielle Eröffnung sollte erst im August 1914 stattfinden, also einen Monat nachdem Meister dort gewesen war.
Anfang Juli gelangte er auf einem Schiff nach England und von dort in die Schweiz, wo er einige Monate blieb, bevor er, diesmal über den Suezkanal, nach Japan zurückkehrte. Gemäss einem Brief von 1915 war er schon im Januar jenes Jahres wieder in Kobe: In acht Monaten hatte er die Welt umrundet.
Wieder in China: Shanghai
1922 kehrte Otto Meister nach China zurück, diesmal nach Shanghai, um die neue Vertretung der Firma Sulzer einzuweihen. Der Sitz der Sulzer Brothers befand sich im Stadtzentrum neben dem sogenannten Bund (Uferpromenade) und eigentlichen Herzstück von Shanghai, bei den wichtigen chinesischen und ausländischen Banken, dem grossen Zollgebäude, dem Shanghai Club und dem Cathay-Hotel. Das heutige Peace Hotel bildete einen gesellschaftlichen Mittelpunkt im Shanghai der Golden Twenties. Die Metropole war im Wesentlichen ein riesiger Hafen mit einem enormen Import- und Exportvolumen. Güter aller Art wurden hier umgeschlagen und mit den verschiedensten Transportmitteln ins Innere von China, nach Japan oder nach dem Westen befördert. Shanghai war schon damals das wirtschaftliche und kommerzielle Zentrum Chinas.
Otto nahm Chiyo und seinen Sohn Freddy mit, der eine gute englische Schule besuchte und in einem insgesamt eher europäischen Ambiente aufwuchs. Die Familie wohnte in der Zone der Französischen Konzession (Wirtschaftsbezirk) an der heutigen Huaihai Lu, damals Avenue Joffre, Nr. 1394. Das Haus europäischen Stils war europäisch eingerichtet und steht heute noch. Der heranwachsende Freddy kleidete sich nach westlicher Art und engagierte sich in seiner Freizeit als Pfadfinder nach Baden Powell.
In diese Zeit fiel ein für Freddy prägendes Ereignis: Der chinesische Koch, der seit vielen Jahren für die Familie arbeitete, erschien plötzlich für mehrere Tage nicht mehr zur Arbeit, ohne jemanden zu benachrichtigen. Als er wieder auftauchte, stellte ihn Otto Meister zur Rede. Der Koch erklärte, in seiner Familie seien alle ausser ihm an Gelbfieber erkrankt, worauf ihn Meister auf der Stelle endgültig wegschickte. Den kleinen Freddy schockierte diese plötzliche Entlassung, denn er war dem Koch zugeneigt gewesen und verstand als Kind natürlich nicht, dass sein Vater durch sein entschlossenes Handeln seine Familie möglicherweise vor der Ansteckung mit einer tödlichen Krankheit bewahrt hatte.
Der chinesische Koch.
Otto verlor vermutlich nicht viele Worte mit Erklärungen. Mit seinem tatkräftigen Charakter verlangte er ebenso viel von sich selbst wie von anderen. Jeden Morgen verliess er bei Tagesanbruch das Haus, um einen Ausritt zu machen, bevor er sich ins Büro begab. Er besass zwei Ponys, «Entry Badge» und «Salvation Union», die ihm viel bedeuteten – so viel, dass er testamentarisch festhielt, was nach seinem Tod mit ihnen zu geschehen habe. Sie sollten auf keinen Fall verkauft werden dürfen, sondern einem Pferdeliebhaber überlassen werden. Allenfalls dürfe man sie, unter der Bedingung, sie nicht weiterzuveräussern, der Polizei vermachen.
Meister war sehr präzis, um nicht zu sagen pedantisch, was die Arbeit anbelangte. So hatte er offenbar die Angewohnheit, Bleistifte, Radiergummis, Büroklammern usw. immer an den genau gleichen Platz auf seinem Arbeitstisch zu legen, sodass mit den Jahren kleine Kerben im Holz entstanden.
Politische Wirren
Im ausgedehnten chinesischen Territorium bildeten sich revolutionäre Gruppen, und nicht selten vermischten diese sich mit Banditen, die vor allem in den Bergen ihr Unwesen trieben. Immer häufiger waren auch Regierungstruppen zu sehen. Sun-Yat-sen hatte der ersten Revolutionspartei eine nationalistische Prägung verliehen. Unter der Führung von Tschiang Kai Schek traten der Kuomintang auf der einen und die Kommunistische Partei mit Mao Tse-tung auf der anderen Seite gemeinsam gegen die revolutionären Gruppen an, um das Land zu vereinigen. Es herrschte ein unbeschreibliches Wirrwarr, die Spannung war greifbar. Die Vorfälle von 1925 und von 1927 auf dem Gebiet der ausländischen Konzessionen von Shanghai, an denen er aktiv beteiligt war, beschreibt Meister in mehreren Briefen an seinen Freund Joseph F. Rock (ein Wissenschaftler und Berichterstatter für «National Geographic») und im aufschlussreichen Bericht vom Dezember 1927, «China und die Fremden», den er an die Firma Gebrüder Sulzer in die Schweiz schickte. Das Shanghai International Settlement, der Zusammenschluss der gut organisierten ausländischen Konzessionen in der Stadt, hatte 1854 in einem Abkommen zwischen den Handelsdelegationen und den britischen, amerikanischen und französischen Konsulaten das Shanghai Volunteer Corps gegründet. Diese internationale Organisation, einschliesslich eines Kontingents von Russen in Uniform, die ordnungsgemäss entlöhnt wurden, hatte die Funktion einer Stadtmiliz zur Verteidigung der internationalen Gemeinschaft von Shanghai mit ihren mindestens zwanzig Nationen. Otto Meister war Voluntär bei diesen Freiwilligentruppen und begab sich regelmässig auf den Schiessplatz, um zu üben. Er nahm mehrmals direkt an der Verteidigung der Stadt teil und war gegen die Southerns angetreten, die sie besetzten: Panzer waren im Einsatz, Barrikaden wurden errichtet, und es kam zu Schiessereien und Hinrichtungen. Die bewaffneten Freiwilligentruppen hatten ein grosses Verdienst bei der Verteidigung der Stadt, die nicht nur von zahllosen Ausländern aus Nanking und anderen schon besetzten Städten bevölkert war, sondern auch von unzähligen Chinesen, die nach Shanghai geflüchtet waren:
Das Wohnhaus Avenue Joffre Nr. 1394 (heute Huaihai Lu).
Otto Meister auf seinem Pony vor dem Haus.
«Wir hatten eine ziemlich aufregende Zeit in Shanghai: Am 11. Januar [1925] ging Chi zum Angriff gegen Chang über, und eine ganze Menge chinesische Kugeln landeten in der französischen Konzession. An die 10000 Besiegte kamen in die Konzession und wurden von der Polizei, Marinesoldaten und Freiwilligen entwaffnet, bevor man sie internierte und später nach Tsingtao zurückschickte. Dann kam Chang-Tsung Chang mit seinen Panzerzügen und russischen Söldnern und Soldaten von Feng. Man rief mich nach draussen, und wir erfroren fast vor Kälte im Schiessstand, wo wir die Nacht verbringen mussten.»
Otto Meister auf dem Sitz der Kanone beim Shanghai Volunteer Corps SVC.
In einem Lagebericht an die Firma Sulzer mit dem Titel «China und die Fremden» schrieb er:
«Hierher gehört z.B. die berühmte ‹Expedition› der Engländer im Frühling dieses Jahres [1925] nach Shanghai. Es stünde wohl heute anders um diese Stadt resp. Konzessionen, wenn jene Truppen nicht dagewesen wären, die nur ca. 2000 Mann starke Bürgerwehr (Volunteers) hätte ja bei weitem nicht genügt. Tausende von Fremden, darunter Amerikaner,