Wintertauber Tod. Urs Schaub
denn die Mutter von André eingetroffen sei.
Zimmer fünf. Unser bestes Zimmer.
Dies blieben die einzigen Worte, die Marnier sprach. Tanner erhob sich, verabschiedete sich und suchte Zimmer fünf. Nachdem er geklopft hatte, rief ihn eine matte Stimme herein.
Tanner stellte sich vor und sprach sein Beileid aus. Er war überrascht, wie distinguiert und vornehm sie gekleidet war. Sie sah aus wie eine Dame von Welt, worauf er überhaupt nicht gefasst gewesen war. Offenbar war sie aber krank – dies legte zumindest ihre auffallende Blässe nahe. Vorsichtig erkundigte er sich nach ihrem Befinden. Sie sprach exzellent deutsch, wenn auch mit starkem Akzent, und antwortete ziemlich offen.
Ja, ich bin krank. Ziemlich krank sogar. Und das alles ist so, hmm, so schlimm, so niederschlagend, dass es mich vollends umbringen wird. Wo soll ich nur anfangen?
Tanner wusste nicht genau, was sie damit meinte. Er schwieg jedoch, bis sie weitersprach.
Ich weiß, Sie wollten meinem Bruder helfen, André zu finden. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Erst jetzt schaute sie ihn richtig an. Vielmehr: Sie musterte ihn regelrecht. Tanner hielt ihrem Blick stand. Dann wandte sie ihren Blick wieder ab.
Sie haben auch Vieles hinter sich, nicht wahr? Aber das geht mich nichts an und es interessiert mich auch nicht. Mich interessiert nichts mehr. Entschuldigen Sie, mein Name ist Helène von Sachsenstein. Der Name ist der meines zweiten Mannes. Er war Deutscher.
Tanner verabschiedete sich und bat um Erlaubnis, in ein paar Tagen noch einmal bei ihr vorsprechen zu dürfen.
Als er das Gasthaus verlassen wollte, traf er auf eine Kollegin der jungen Frau aus Wien. Er erkannte sie aufgrund der Fotografien, die er kürzlich studiert hatte. Tanner erkundigte sich bei ihr, wo er die Sanders finden könne. Die junge Frau antwortete sofort und bereitwillig.
Sie sei unter diesen Umständen spontan zu einer Freundin in die Hauptstadt gefahren, sie könne ihm aber gerne die Telefonnummer geben. Sol hätte gewusst, dass er nach ihr fragen würde und sie gebeten, ihm die Nummer der Freundin zu geben.
Sol? So nannte Marnier sie auch. Was war denn das für ein Name?
Wie ist der Vorname von Frau Sanders? Sol?
Die Kollegin lachte und begann in ihrer Tasche zu wühlen.
Nein, nein, das ist bloß eine Art Spitzname. Eine Unart in dieser Gegend, und im Gastgewerbe sowieso. Jeder Vorname wird verkürzt. Richtig heißt sie Solveig. Ihre Mutter ist nämlich aus Schweden. Der Vater ist Wiener. Oder Russe, der in Wien lebt, oder so ähnlich. Also, wie gesagt, sie heißt Solveig. Aber in der Hektik unseres Betriebs ist der Name zu lang. Auch auf der Serviceliste hat er kaum Platz. Ah, hier ist der Zettel ja.
Tanner bedankte sich und verließ das Restaurant.
Solveig Sanders.
Tanner murmelte den Namen ein paar Mal vor sich hin.
Solveig, du hast einen schönen Namen, und du bist ein kluges Kind.
Auf dem Heimweg versuchte er sie zu erreichen, doch es nahm niemand ab, und es gab auch keinen Anrufbeantworter.
Den Nachmittag verbrachte Tanner bei den beiden Schwestern im neuen Kommunikationszentrum, wie sie es neuerdings nannten. Um die beiden etwas abzulenken, schlug er vor, gemeinsam einen Namen für das neue Café zu suchen. Vorerst konnten sie sich aber noch auf keinen einigen.
Der nächste Morgen brachte den dreizehnten Tag seit dem Verschwinden von André Tillieux. Er war zwar tot, aber Tanner benutzte immer noch trotzig diese Zeitrechnung. Er begann mit dem Studium der Fotografien, die er von den blutigen Zeichen bestellt hatte. Ein Bote, beauftragt von Michel, hatte sie ihm ziemlich früh am Morgen vorbeigebracht. Den gleichen Satz Bilder hatte der befreundete Semiotiker erhalten und versprochen, sich so schnell als möglich an die Arbeit zu machen.
Tanner pinnte die großen Fotos an die Wände seines beeindruckend langen Flurs und stellte die Beleuchtung hell. Zum ersten Mal sah er alle Zeichen versammelt. Sein spontanes Gefühl, dass es sich um ein und dieselbe Handschrift handelte, bestätigte sich erneut und auf einen Blick. Egal, ob der Täter die Zeichen irgendwo abgekupfert oder sie selber geschaffen hatte, eine persönliche Note war deutlich zu erkennen. Sich nach gleicher Struktur wiederholende Bögen, Schwünge und andere malerische Eigenheiten waren zwingende Indizien dafür, dass sämtliche Zeichen aus einer Hand stammten.
Der Pinsel, den die Person verwendet hatte, dürfte etwa zwei Zentimeter breit und relativ steif gewesen sein, denn der Pinselstrich blieb gleichmäßig breit. Es waren insgesamt neunundzwanzig Haustüren bemalt worden. Erkennen konnte man elf verschiedene Zeichen. Einige wiederholten sich offensichtlich, bei anderen war es nicht ganz klar, ob sie fehlerhaft gemalt worden waren oder ob sie Varianten darstellten. Immerhin musste man berücksichtigen, dass der Täter alles nachts gemalt hatte und auch noch unter dem Druck, dass ihn jemand entdecken könnte. Die Nacht musste ungewöhnlich dunkel gewesen sein, denn in jener Nacht war Neumond, und es hatte geregnet. Zudem war die Straßenbeleuchtung im Dorf an vielen Stellen sehr dürftig, was laut Solène im Gemeinderat schon öfter zu Streitigkeiten geführt hatte.
Wenn der gleiche Täter tatsächlich auch für das Verschwinden der Katzen verantwortlich war, musste man davon ausgehen, dass er das Dorf wie seine Westentasche kannte, ebenso die Gewohnheiten der Bewohner (nota bene: auch die der Katzen), und dass er sich nachts in der Dunkelheit souverän und schnell bewegen konnte. Das Einsammeln der Katzen und das Malen der Zeichen dürfte sich jeweils zwischen zwei und vier Uhr abgespielt haben, denn dies war die Zeit, in der mit großer Wahrscheinlichkeit niemand mehr unterwegs war. Schon gar nicht in einer mondlosen, kalten Regennacht. Mit Sicherheit war das alles genau kalkuliert.
Ob der Täter allein gehandelt hatte oder mit Helfern, konnte Tanner noch nicht mit Bestimmtheit entscheiden.
Sollte es sich allerdings herausstellen, dass die Zeichen tatsächlich mit Katzenblut gemalt worden waren, so handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen einzelnen Täter. Tanner kannte es schon – Täter mit solchen Krankheitsbildern waren fast immer Einzeltäter.
Tanner hängte die Fotos um und versuchte, die Zeichen zu Gruppen zusammenzustellen. Einen Sinn konnte er immer noch nicht erkennen. Sie waren einfach zu abstrakt. Es gab nur wenige einzelne, die vage an eine Tierform erinnerten, so wie ein Kind es zeichnen würde.
Tanner schwankte zwischen den beiden Möglichkeiten, dass entweder das Blut allein die Botschaft war und die Zeichen weiter nichts bedeuteten oder dass die Zeichen einen wirklichen Inhalt transportierten und das Blut lediglich die Dringlichkeit der Aussage unterstrich. So wie beim Prinzip der Blutsbrüderschaft oder in Mythen und Legenden, in denen Verträge mit dem eigenen Blut unterschrieben wurden.
In diesem Augenblick rief Michel an.
Ich habe zwei Neuigkeiten. Eine ist hochbrisant und die andere wird dich nicht besonders überraschen. Welche willst du zuerst?
Ich bitte dich, Michel, sag’s einfach. Ich mag solche Spiele nicht.
Ja, ist ja gut. Also, es ist tatsächlich Katzenblut und zweitens – und jetzt pass auf!
Komm schon, Michel.
André Tillieux war bereits tot als er sich zum Selbstmord auf die Schienen legte.
Tanner schwieg.
Bist du noch dran?
Ja, sicher. Und was war die eigentliche Todesursache?
Eine durchschnittene Kehle.
Verdammt. Also hat er ihr doch die Wahrheit gesagt.
Welche Wahrheit?
Er hatte fürchterliche Angst vor einer Person, die der Teufel sei, obwohl alle dächten, er sei lieb. So war der Wortlaut von Frau Sanders.
Ach, du Scheiße! Im Bericht steht, dass es sich um ein sehr scharfes Messer und um eine geübte Hand gehandelt haben muss, denn die Kehle ist mit einer einzigen Bewegung durchschnitten worden. Auch sonst ist laut Bericht an seinem Körper rumgeschnipselt worden,