Wintertauber Tod. Urs Schaub
Sie denn eine Idee, wen er gemeint haben könnte?
Nein. Aber er hat gesagt, dieser Mann sei der Teufel.
DREI
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe und katapultierte das kleine Dorf ins Rampenlicht der Nation. Da konnte Serge Michel toben und schreien wie seine Lunge Sauerstoff hergab. Ändern konnte er nichts mehr. Und natürlich wollte es am Ende keiner gewesen sein.
Ja, Herrgott im Himmel! Die Nachricht hat wohl kleine Füße bekommen und ist in Eigenregie zur Redaktion dieser Scheißzeitung marschiert, oder was? Ich verlange vom Polizeipräsidenten eine offizielle Untersuchung. Und zwar sofort! Und wenn er die nicht bewilligt, hat er heute Abend meine Kündigung auf dem Schreibtisch, und ich gehe endlich nach Indien und finde mich selbst! Und dann wehe euch!
Michel holte geräuschvoll Luft. Das gesamte Kommissariat saß still auf den Stühlen oder stand unbeweglich und wartete, bis der Anfall vorüber war. Nur Michel tobte wie ein wildgewordener Stier.
Mein Gott, ist das denn zu fassen? Anfänger! Alles Anfänger und Idioten. Dilettanten aller Welt: vereinigt euch. Wir stopfen euch alle in eine große Rakete und jagen euch mit einem großen Knall zum Mond. Oder besser noch: Wir verfrachten alle in ein Schiff und verbannen euch auf eine einsame Insel, das ist billiger.
Außer sich vor Wut blickte Michel in die Runde.
Habe ich nicht laut und deutlich verboten, über diesen Fall zu sprechen? Das totale Informationsverbot habe ich verhängt, absolute Plaudersperre. Und? Gilt mein Wort nichts mehr? Was haben wir jetzt? Den größten Informationsgau aller Zeiten. Da, seht euch die Überschrift an!
Michel pfefferte die Zeitung quer durch den Raum.
Wisst ihr, was jetzt passiert? Die Presse wird die nächsten Tage das Dorf belagern und die Bewohner fest im Griff haben. Anständige Polizeiarbeit können wir sowas von vergessen, das glaubt ihr gar nicht. Wenn das Interesse dann nachgelassen hat, wird man das Dorf fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Die Spuren werden zertrampelt sein, und vor lauter falschen Behauptungen rachsüchtiger Dorfbewohner und durchgeknallten Theorien karrieregeiler Journalisten wird die Wahrheit sich verflüchtigt haben wie das Tröpfchen edler Duftstoffessenz in einem Schweinestall.
Dieser etwas unglückliche Vergleich wollte erst einmal verdaut werden, weswegen die verdatterten Zuhörer mit Verspätung feststellten, dass Michel, der Wütende, verstummt war. Die plötzliche Stille war fast beängstigender als sein Herumbrüllen. Alle Blicke galten nur ihm.
Was guckt ihr? Hat einer eine Bibel da? Und zwar das alte Testament. Ich muss dringend etwas nachsehen. Ich brauche sofort eine Bibel. Mensch, sucht eine Bibel!
Das war das erlösende Stichwort. Endlich gab es etwas zu tun. Alles kam in Bewegung, bückte und reckte sich, wühlte in Schubladen und Schränken, deren Untiefen man schon länger nicht mehr ausgelotet hatte. Einer, der um die Ecke wohnte, telefonierte sogar mit seiner Frau. Aber es war wie verhext: keine Bibel weit und breit.
Ein Weilchen schaute Michel dem Treiben zu. Dann stand er auf. Ich sehe, ihr habt keine. Gebt euch keine Mühe. Ich gehe jetzt und besorge mir eine. Irgendwo wird ja in dieser gottlosen Zeit eine Bibel aufzutreiben sein.
Wütend stapfte er zur Tür hinaus.
Tanners Vermutung über die Beschaffenheit der Farbe hatte sich bestätigt. Es war eindeutig Blut. Ob es tatsächlich von den verschwundenen Katzen stammte, wie die Sensationspresse behauptete und Tanner vermutete, musste zuerst noch durch weitere Untersuchungen ermittelt werden.
Das Dorf befand sich in Aufruhr. Innerlich. Äußerlich schien es in einen Zustand der Lähmung gefallen zu sein. Sie lag bleiern über den Straßen und Gärten. Die Fensterläden der meisten Häuser waren auch am helllichten Tag geschlossen, so dass das stets rundum verriegelte Herrschaftshaus beim Bahnhof jetzt nicht einmal mehr besonders auffiel. Die Straßen waren wie leergefegt, einzelne Familien Hals über Kopf abgereist. Einige Dorfbewohner hatte man mit Nervenzusammenbrüchen in die Klinik einliefern müssen. Der Gemeinderat beschloss daraufhin, die Schule vorerst zu schließen.
Es hatte Tanners ganze Überredungskunst gekostet, die beiden Schwestern zu überzeugen, trotz allem ihren Laden zu öffnen.
Das Dorf braucht jetzt dringend zumindest scheinbare Normalität als Gegenpol.
Ihr müsst den Laden öffnen. Die Leute brauchen einen Ort, wo sie reden, wo sie sich austauschen können. Das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist, dass sich jeder zu Hause verschanzt und einkapselt. Wisst ihr was? Wir machen aus eurem Laden ein richtiges Informationszentrum.
Meinen Sie wirklich, Tanner? Mir macht das alles Angst. Lasst uns doch lieber in den Süden fahren. Das haben Sie doch selber vorgeschlagen.
Aber Solène, das war vor ein paar Tagen. Heute haben wir doch eine ganz andere Situation. Es kann nicht Ihr Ernst sein, jetzt wegfahren zu wollen.
Nein. Sie haben ja Recht. Was meinst denn du, Solange?
Ich finde, Herr Tanner hat Recht. Wir machen den Laden auf und eröffnen eine richtige Nachrichtenbörse. Ich habe auch schon eine Idee.
Im Laufe eines einzigen Nachmittags räumten die beiden den seitlichen Lagerraum des Ladens leer, liehen sich Tische und Stühle aus dem Schulhaus und eröffneten ein kleines Café. Die Längswand diente als großes Anschlagbrett, dort hingen bereits sämtliche Zeitungsartikel zum Dorf. Kaffee und Tee wurde in der Wohnung gebraut und in großen Thermoskannen ins Café gebracht. Alle anderen Arten von Getränken waren im Laden ja bereits vorhanden. Desgleichen Biskuits und Kuchen. Gegen Abend wagten sich bereits einige Leute aus ihren Wohnungen heraus, saßen ein Weilchen im neuen Café beisammen und redeten über die ganze Sache. Solange kümmerte sich ab sofort ausschließlich um das Kommunikationszentrum – dieses Wort sprach sie mit Stolz aus –, und Solène schmiss den Laden.
Das Leben der Menschen im Dorf hatte sich seit dem Morgen schlagartig verändert.
Wie fröhlich (zumindest über weite Strecken) war der Abend vor zwei Tagen gewesen, als Michel und die beiden Schwestern bei Tanner essen waren. Tanner hatte einen ganzen Nachmittag mit den Vorbereitungen zum großen Gastmahl zugebracht. Die Lammkeule spickte er mit Knoblauchzehen, pinselte sie dann mit einer großzügigen Portion einer selbstgemischten Honig-Senf-Rosmarin-Sherry-Paste ein und garte sie beinahe vier Stunden lang äußerst langsam im Ofen – wobei er selbstverständlich nicht vergaß, sie alle zwanzig Minuten mit dem eigenen Saft zu übergießen. Als Beilage bereitete er ein Risotto radicchio rosso vor. Des Weiteren kochte er getrocknete Zwetschgen in Rotwein und verlas Bohnen sorgfältig von Hand. Das eine Ende der Bohnen schnitt er ab; die natürliche Spitze des anderen Endes jedoch ließ er unversehrt. Im Wasserdampf nur kurz der Hitze ausgesetzt, blieben die Bohnen schön knackig. Jetzt nur noch schnell mit Eiswürfelwasser abgeschreckt, damit sie ihre schöne Farbe behielten; eine große Zwiebel in Butter angeschwitzt; die Bohnen kurz darin geschwenkt; mit Mangold, Frühlingszwiebeln, Lauch, Petersilie, verschiedenen Gewürzen, Olivenöl, Salz, Pfeffer und acht frischen Eiern vermengt – und fertig war die Frittata alle erbe, die kalt und in Streifen geschnitten ein Teil des Vorspeisentellers werden sollte. Dann wurden von Tanner noch Zucchini in dünne Streifen geschnitten, gesalzen und einzeln in Olivenöl gebraten. Die dünnen Fischfilets würzte er leicht und schweißte sie in Folie ein, um sie später zum zweiten Gang nur kurz in heißes Wasser zu tauchen. Diese Methode garantierte, dass auch nicht ein einziges Geschmacksatom verloren ging.
Die beiden Frauen waren viel zu früh gekommen und hatten Tanner empfindlich bei den letzten Vorbereitungen in der Küche gestört. Er war gerade beim Herstellen einer eigenen Olivenpasten-Kreation aus schwarzen und grünen Oliven, Walnüssen, Pinienkernen, fein geschnittenem, rohen Fenchel und ebenso feingeschnittenen, getrockneten und ungeschwefelten Aprikosen. Zum Glück hatte er die gebrannte Crème gerade noch fertig bekommen, bevor die beiden kichernden Schwestern ihren Auftritt machten, denn in ihrer Anwesenheit hätte Tanner sich nicht mehr zu der Konzentration befähigt gefühlt, die unabdinglich war, damit eine Crème brûlée gelang.
Und Michel?
Michel erschien tatsächlich mit dem Glockenschlag, und