Wintertauber Tod. Urs Schaub

Wintertauber Tod - Urs Schaub


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dieser Seeseite, in der hier noch regelmäßig Kursschiffe angelegt hatten. Eine hohe Stange mit einem altmodischen Namensschild der Station und dem erstaunlich poetischen Wappen des Dorfes zeugten von vergangenen Zeiten.

      Im Winter ein weiterer verlassener, melancholischer Ort. Tanner mied ihn an diesem Tag und schritt zügig voran.

      Kurze Zeit später erblickte er rechts, oberhalb des Hanges, an dessen Fuß die schmale Straße verlief, zuerst die Kirche mit dem Pfarrhaus und der kleinen Kapelle, in der neuerdings ein Philosoph hauste, und gleich darauf die Rückseite der Autowerkstatt, deren Besitzer er vorhin beim Schneewischen gesehen hatte, sowie einen Teil eines Bauernhauses. Schließlich das Haus von Marnier, dicht daneben das imposante Dach seines eigenen Wohnhauses und die steinernen Balustraden des parkähnlichen Gartens.

      Die Straße schlängelte sich immer schmaler werdend zwischen diesem Hang und der Eisenbahnlinie entlang, bis zu einer ganz engen Nadelkurve, schon eher eine Art Spitzkehre, die so mancher Autofahrer kaum im ersten Anlauf meisterte. Danach führte die Straße praktisch in die Gegenrichtung zurück, den Hang entlang ziemlich steil aufwärts, bis sie endlich in die Hauptstraße mündete, an der entlang die Häuser des Dorfes hauptsächlich aufgereiht waren. Die Gebäude der Hangstraße besaßen eine merkwürdige Ausstrahlung. Es war nicht das Wissen allein, dass hier die Ärmsten des Dorfes wohnten, es war auch nicht die offensichtliche Verwahrlosung, die diesem Ort eine unangenehme Aura verlieh. Es ging etwas Unheilvolles, Unerlöstes von diesen morschen Häusern aus. Wann immer Tanner auf seinen Spaziergängen jemand angetroffen hatte, waren die Blicke weder freundlich noch offen. Aber was genau sein Unbehagen auslöste, hatte er noch nicht herausfinden können. Menschen hatte er hier sowieso selten angetroffen. Dafür verwahrloste und bellende Hunde in viel zu kleinen Zwingern. Einzig bei dem kleinsten Haus hatte er dann und wann einen alten Mann mit einem ganz und gar verschrumpelten Gesicht beim Holzspalten getroffen, der ziemlich leutselig zu einem kurzen Schwatz über die Qualität und Güte diverser Brennhölzer und Spaltbeile bereit gewesen war. Dass die Häuser bewohnt waren, verrieten eigentlich nur die vergilbten Vorhänge, die sich leise bewegten, wenn einer wie Tanner vorbeiging. Genau so geschah es auch an diesem Tag.

      Er war offensichtlich der erste, der auf der schmalen Straße ging, denn der Schnee war noch jungfräulich unberührt.

      Oben an der Hauptstraße angekommen, erinnerte er sich an die Aufforderung Marniers, ihm einen Besuch abzustatten. Tanner überquerte die Straße.

      Trat man in das Restaurant, fühlte man sich augenblicklich zutiefst in das Frankreich einer vergangenen Epoche versetzt. Viel Gobelin an den Wänden und auf den Stühlen, schwere weiße Tischdecken. Unzählige Stiche wichtiger historischer Momente der Grande Nation zierten die Wände. Marnier erwartete ihn bereits in einem der kleineren Gasträume.

      Danke, dass Sie meiner Einladung folgen, Tanner. Nehmen Sie ein Glas Wein?

      Nein, danke. Ein Espresso und ein großes Glas Wasser wären mir lieber, bitte.

      Ich schließe mich Ihnen an. Bitte nehmen Sie Platz. Wenn es recht ist, will ich gleich ohne Umleitung sagen, warum ich Sie reden will.

      Nur zu, lieber Marnier.

      Wir äh … wie sagt man? Wir vermissen? Ja, genau. Wir vermissen jemanden.

      Sagen Sie jetzt nicht, Sie vermissen auch eine Katze.

      Katze? Warum Katze? Wir hatten mal eine. Aber das ist lange her.

      Ja, entschuldigen Sie, Marnier. Wissen Sie denn nicht, dass das halbe Dorf seine Katzen vermisst?

      Nein, das wusste ich nicht. Stimmt das denn? Woher wissen Sie …?

      Die Zwillinge aus dem Laden und Frau Gruber von der Gemeinde haben es mir gesagt.

      Dann stimmt es sicher, Tanner. Vor allem Frau Gruber ist kein Spaß.

      Beide lachten.

      Nein, nein. Sie ist sehr nett, aber sie ist definitiv kein Spaß!

      Also, hören Sie, ich war als junger Koch auf den französischen Antillen, da sind einmal auch alle Katzen verschwunden. Ganz plötzlich. Am anderen Tag gab es eine starke Beben der Erde. Ein paar Tage später waren alle wieder da.

      Dann hoffen wir doch mal, dass die Erde hier ruhig bleibt. Also, Marnier, wenn es keine Katze ist, was vermissen Sie dann?

      André. Wir vermissen unseren jüngsten Lehrling.

      Seit wann?

      Marnier rutschte unruhig auf dem Stuhl herum.

      Ja, es ist sehr dumm. Seit einer Woche.

      Seit einer ganzen Woche?

      Ja. Das heißt, nein. André ist sehr komplex. Er ist sehr begabt, hat aber beständig großen Unsinn im Herzen. Er ist der Sohn meiner Schwester aus Marseille. Sie hat ihn mir angehängt, äh nein, ich meine … anvertraut. Er ist schon zweimal einfach verschwunden. Einmal aus Heimweh. Sie hat ihn dann wieder, äh, wie sagt man … mit gleicher Post zurückgeschickt.

      Sie meinen postwendend.

      Ja, genau. Und einmal hat er den Autostopp in den Süden gemacht, bis er im Meer stand. In Genua. Er hat mir telefoniert und ich habe ihn geholt. Er hat gesagt, dass er das Meer sehen muss, sonst müsse er sterben. Oder so ungefähr.

      Marnier schüttelte den Kopf.

      Sie sehen, er ist sehr komplex.

      Ja, es scheint sich um einen komplizierten jungen Mann zu handeln.

      Genau. Kompliziert. Wollen Sie noch ein Espresso?

      Tanner nickte.

      Und jetzt ist er wieder einmal verschwunden?

      Also, er hatte drei Tage frei und hat gesagt, dass er zu einem Freund nach die Stadt fahren will. Später haben wir bemerkt, dass er gar nicht bei Freund aufgetaucht ist, und sein Motorrad stand die ganze Zeit hinter dem Haus. Das haben wir aber erst vor zwei Tagen gesehen. Wir haben gedacht, dass er damit unterwegs ist.

      Wie alt ist André?

      Er ist gerade siebzehn geworden. Er ist jung.

      Nimmt er Drogen?

      Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Er raucht vielleicht Haschisch.

      Wie alle jungen Leute, aber mehr weiß ich wirklich nicht.

      Lieber Marnier, warum erzählen Sie das alles mir und nicht der Polizei?

      Wollen Sie mich schrecken, Tanner?

      Nein, aber sehen Sie, Marnier, eine Woche ist zu lang, um einfach die Augen zuzumachen. Und die Polizei verfügt über gewisse Kanäle. Zu den Spitälern, zum Beispiel, falls ihm irgendetwas zugestoßen ist. Wie gesagt, ich will Ihnen keine Angst machen, aber wenn Sie absolut keinen Hinweis haben, wo er sein könnte und wenn er sich diesmal überhaupt nicht meldet, dann könnte es doch sein, dass er in Schwierigkeiten steckt.

      Ja, wahrscheinlich haben Sie Recht, Tanner.

      Haben Sie denn schon alle seine Freunde gefragt, ob die vielleicht wissen, wo André steckt?

      Ja, haben wir. Aber keine Resultat. Ich dachte, dass Sie, Tanner, vielleicht nachschauen könnten. Sie waren doch Polizist, stimmt es, oder?

      Tanner hatte keine Lust, die Frage zu beantworten.

      Hat André denn kein Mobiltelefon?

      Doch. Aber er antwortet nicht.

      Haben Sie schon sein Zimmer untersucht? Haben Sie Zugriff zu seinem Bankkonto? Weiß Ihre Schwester Bescheid? Gibt es auch einen Vater? Könnte er bei ihm sein? Trägt André Ausweispapiere bei sich? Haben Sie ein Foto von ihm, das wirklich etwas taugt?

      Tanner ließ Marnier eine kleine Verschnaufpause.

      Schauen Sie, Marnier, es mag jetzt etwas sehr nüchtern klingen, aber das sind in etwa die Fragen, die Sie den Behörden werden beantworten müssen. Noch etwas: Wer ist die Person, der er am meisten vertraut?

      Marnier sah jetzt richtig unglücklich aus.


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