Wintertauber Tod. Urs Schaub
beteiligt gewesen war und sich dabei in Elsie Marrer, eine junge attraktive Mutter eines dieser ermordeten Kinder, verliebt hatte. Elsie war hier im Dorfe wohlbekannt – und auch wohlgelitten. Sie wurde dann – so munkelte das Dorf über Elsies Schicksal – nicht ganz ohne Tanners Schuld vom Mörder in einem Eiskeller grausam gefangen gehalten und sei nach über einem Jahr im Koma schließlich im Krankenhaus verstorben. Elsies andere Kinder lebten seither bei Verwandten. Dass er diese Kinder nicht adoptiert hatte, wenn er sich schon einmal mitschuldig gemacht hatte, war ein weiterer Punkt, über den man sich den Mund zerriss. Dann gab es natürlich noch Spekulationen über das Vermögen, das er angeblich angehäuft hatte. Auf jeden Fall war es für alle Dorfbewohner offenkundig, dass er nicht zu arbeiten brauchte. Auch fuhr er eines der elegantesten Autos in der Gegend. Woher kam nur all dieses Geld? Tanners Vergangenheit präsentierte sich folglich mit einer Fülle interessanter Fragezeichen. Dass es ihm offensichtlich vollkommen egal war, was die Leute dachten, machten sie ihm zum größten Vorwurf. Denn für alle anderen war doch genau das am wichtigsten. Die einfach gestrickte Beweisführung endete damit, dass Tanner sichtlich anders war als die Dorfbewohner oder – was auf das Gleiche hinauslief – gar nicht dazugehören wollte. Damit hatten sie sich in ihren Augen auch das Recht erworben, ihn abweisend zu behandeln.
Tanner füllte wie immer einen großen Einkaufskorb mit allerlei Leckereien und brachte ihn zur Kasse. Später würde sich ein Schüler oder eine Schülerin vom gegenüberliegenden Schulhaus ein wenig Taschengeld dazuverdienen und die Einkäufe in seinen Hausflur stellen. Solène, die um drei Minuten ältere Zwillingsschwester, saß an der Kasse.
Tanner, haben Sie eine Katze?
Nein, Solène. Ich habe keine Katze. Wieso? Haben Sie eine zu verschenken?
Also, erstens bin ich Solange. Solène steht dort hinten und räumt Regale ein. Dass Sie uns immer noch nicht unterscheiden können!
Sie schüttelte dramatisch ihren hübschen Kopf.
Daraus schließe ich, dass wir Ihnen immer noch so gar nichts bedeuten. Was machen wir bloß falsch?
Tanner war felsenfest davon überzeugt, sie richtig erkannt zu haben. Schließlich steckte in Solènes Schürze immer ein roter Kugelschreiber. Solange zog Bleistifte vor. Auch war ihr Gesicht deutlich schmaler, so dass die relativ hohen Backenknochen, die beide besaßen, bei Solange ausgeprägter wirkten. Außerdem gab es gut unterscheidbare körperliche Merkmale, auch wenn sich die beiden tatsächlich auf den ersten Blick wie ein Ei dem anderen glichen. Und selbst bei Eiern gibt es bekanntlich Unterscheidungskriterien. Doch die Zwei spielten für ihr Leben gerne dieses Verwechslungsspielchen und er – er machte gerne mit.
Oh, das tut mir leid, Solange. Ich muss euch einfach mal besser kennen lernen, dann werde ich euch auch nicht mehr verwechseln.
Tun Sie das, Monsieur, tun Sie das! Aber nicht immer nur darüber reden!
Schon allein diese Aussage bewies, dass es sich um Solène handelte. Nie und nimmer hätte Solange so frech geflirtet.
Die beiden Schwestern warfen sich durch die Regale hindurch einen Blick zu und lachten übermütig. Die Kundschaft blickte missbilligend, und Solène senkte ihre Stimme.
Ach ja, wegen der Katzen. Nein! Ich habe keine zu verschenken. Aber … im Dorf sind letzte Nacht offenbar alle Katzen verschwunden. Auf einen Schlag. Ist das nicht sonderbar?
Ach so. Jetzt verstehe ich.
Tanner blickte sie an und wartete, bis sie wieder zu lachen begann, aber sie meinte es ernst.
So, so, die Katzen sind also verschwunden? Vielleicht mögen sie einfach keinen Schnee und haben beschlossen auszuwandern. Sind wahrscheinlich alle unterwegs in den Süden. Im Gänsemarsch. Oder per Anhalter. Das sollten wir übrigens auch tun. Tanner lachte. Solène tat so, als hätte sie nicht verstanden.
Was? Was sollten wir tun?
In den Süden fahren. Wir drei. Wir müssten nicht einmal Autostopp machen, sondern könnten mit meinem Auto fahren.
Machen Sie sich nur lustig, Monsieur. Wenn Sie eine Katze hätten und die einfach so verschwinden würde, wären Sie sicher auch traurig.
Entschuldigen Sie, Solène. Haben Sie denn ebenfalls Ihre Katze verloren?
Diesmal protestierte sie nicht gegen die Namenszuteilung.
Nein, nein. Ich will kein Haustier. Ich finde es immer traurig, diese Tiere in den Wohnungen und so. Zudem habe ich ja meine Schwester. Das ist Abwechslung genug.
Da haben Sie sicher Recht. Ich hoffe, die Katzen kommen wieder zum Vorschein.
Ja, das hoffen wir auch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Spaziergang, Herr Tanner.
Danke und auf Wiedersehen, Solène.
Tanner verließ den Laden fröhlicher, als er ihn betreten hatte. So erging es ihm jeden Tag.
Das nenne ich erfolgreiche Kundenanbindung. So einen Laden muss man mir in der Stadt erst einmal zeigen. Es ist wie ein kleines Wunder. Aber wie sagt man so schön: Raum ist in der kleinsten Hütte.
Er lachte vergnügt und wiegte den Kopf.
Was machten zwei so attraktive Zwillingsschwestern in diesem Dorf? In diesem Laden? Ein Rätsel, über das Tanner mitunter gerne nachdachte, doch zu einer schlüssigen Antwort war er noch nicht gekommen. Er hatte zu seinem Vergnügen schon etliche Thesen durchdekliniert. Alle Arten von unglücklichen Liebesaffären, bis hin zur Vermutung, dass die beiden irgendwo ein Verbrechen begangen hatten und sich hier in dem kleinen, unscheinbaren Dorfladen eine Weile versteckt hielten. Auf alle bisherigen, geschickt eingefädelten Fragen hatte er nur ausweichende Antworten erhalten. Wie auch immer, die beiden gefielen ihm außerordentlich gut. Wieso wäre er sonst freiwillig jeden Tag einkaufen gegangen, manchmal sogar zweimal am Tag? Er konnte die beiden zwar mittlerweile gut unterscheiden, aber sich noch immer nicht entscheiden, welche der beiden ihm besser gefiel. Auf den ersten Blick war es sicher Solène. Ihre Attraktivität sprang einem gleichsam ins Gesicht. Man konnte sich ihr kaum entziehen. Solanges Geheimnis musste zuerst entdeckt werden. Dann aber …
Es war wie in der Musik. Manche Melodien gingen gleich ins Ohr, andere entfalteten sich erst nach mehrmaligem Hören.
Zufrieden mit diesem Vergleich überquerte er die Straße zum Schulhaus, wo im Parterre die Gemeindeverwaltung untergebracht war. Die Fenster des ganzen Gebäudes waren trotz des hellen Tageslichts erleuchtet. Erstaunlicherweise hörte man keinen Ton. Vielleicht hatten alle Schüler gemeinsam eine schriftliche Arbeit zu bestehen. Oder sie lauschten atemlos einer Geschichte des Lehrers.
Da hörte er jemanden vom Schulhaus her seinen Namen rufen. Im Parterre lehnte sich die Gemeindeschreiberin aus einem offenen Fenster.
Entschuldigung, Herr Tanner?
Guten Morgen, Frau Gruber. Was gibt’s?
Haben Sie auch eine Katze? Und ist die vielleicht auch verschwunden?
Nein, nein. Ich habe keine Katze. Danke der Nachfrage. Sind denn wirklich so viele Katzen verschwunden?
Es gelten an die fünfundzwanzig Katzen als vermisst.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Nein. Das ist es ja. Man hat noch nie von einer Massenflucht von Katzen gehört. Aber es wird sich schon noch klären.
Das denke ich auch. Auf Wiedersehen.
Frau Gruber war ihm von Anfang an wohlgesonnen gewesen. Er wusste zwar nicht warum, aber ihre Freundlichkeit machte den Umgang mit der Gemeindebehörde durchaus angenehm.
Die Hauptstraße machte eine ganz leichte Kurve, und schon bald würde er das Ende des Dorfes erreicht haben. Interessant waren vor allem die Gebäude am Ende der Straße, und zwar die auf der linken Seite. An dieser Stelle blieb Tanner jedes Mal gerne stehen und schaute sich ausgiebig das große Gut an.
Umgeben von einem herrlichen alten Baumbestand, von gepflegten Hecken und Wiesen, die auf raffinierte Weise unmerklich in einen fast parkähnlichen Garten übergingen, stand, leicht erhöht, eine Backsteinvilla