Wintertauber Tod. Urs Schaub

Wintertauber Tod - Urs Schaub


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jedenfalls. Aber ich weiß ja auch nichts, merde!

      Gut. Marnier. Ich kann eines für Sie machen. Ich werde mich sofort bei einem Freund bei der Polizei erkundigen, ob die was haben. Wenn nichts dabei rauskommt, machen Sie sofort eine Anzeige. Ist das klar?

      Ja, das ist klar. Das machen wir.

      Marnier trank in einem Zug das Glas Wasser aus. Seine Hände zitterten.

      ZWEI

      Es war noch tiefe Nacht, als das Telefon klingelte. Stöhnend nahm Tanner den Hörer ab.

      Das kannst nur du sein, Michel! Wo brennt’s denn mitten in der Nacht?

      Was heißt hier: mitten in der Nacht …!? Himmel Herrgott! Hat der Herr mich um etwas gebeten oder ich ihn? Wir von der Polizei können es uns nicht leisten, in den Tag hinein zu schlafen. Zudem muss ich ja arbeiten. Tag für Tag meine Brötchen verdienen. Und wenn du glaubst, ich hätte nicht jede Menge Wichtigeres zu tun, dann irrst du dich gewaltig!

      Oh je, Michel! So früh am Morgen und bereits schlecht gelaunt?

      Wie kommst du denn darauf, Tanner? Ich bin doch immer so.

      Ja. Das stimmt auch wieder. Dickhäuter sind Morgen-, Mittag- und Abendmuffel.

      Hey, Vorsicht. Ich habe abgenommen. Ganze zwanzig Kilo.

      Ah ja, stimmt. Aber was sind zwanzig Kilo auf eine halbe Tonne?

      Tanner, ich lege gleich auf, wenn du so weitermachst.

      Nein, ist ja gut. Ich bin sehr stolz auf deine zwanzig Kilo.

      Michel räusperte sich.

      Von Tillieux haben wir nicht die Bohne einer Spur und auch keine Abgangsmeldung. War’s das?

      Du drückst dich wieder einmal sehr kultiviert aus. Aber ich danke dir. Besonders, da du soviel andere Arbeit hast, du Armer. An was arbeitest du denn gerade? An einem neuen Konzept für deine Mittagsverpflegung?

      Nein, du Idiot. Wir haben doch diese seltsamen Todesfälle in einem der städtischen Altersheime. Ach ja, wenn du mich schon fragst: Vielleicht könntest du mal einen Blick in die Akte –

      Tanner unterbrach ihn.

      Heute Abend. Punkt Acht. Bei mir. Im Smoking. Wir essen am weiß gedeckten Tisch. Wer weiß, vielleicht haben wir sogar zwei charmante Tischdamen. Und wenn du fünf Minuten zu spät kommst wie letztes Mal, schmeiße ich das Essen vor deinen Augen in den Abfall. Haben Sie mich verstanden, Herr Kommissar, Abteilung Leib und Leben?

      Ay ay, Sir! Aber du weißt ja, man hat die Bezeichnung »Leib und Leben« abgeschafft. Wir sind jetzt eine stinknormale Mordkommission.

      Wie schade. Ich finde »Leib und Leben« viel schöner.

      Tanner legte auf.

      Ach, dieser Michel!

      Er legte sich noch einmal auf die Seite, wusste aber jetzt schon, dass er keinen Schlaf mehr finden würde.

      Diese ewigen Anspielungen auf das Geld. Und dann wieder zu mir rennen, wenn er in seinem dämlichen Fall nicht weiterkommt. Typisch, typisch.

      Tanner schlug die Decke zurück und beschloss, unter die Dusche zu gehen. Draußen war es noch dunkel, und er konnte nicht sehen, ob es erneut geschneit hatte oder ob der Schnee vielleicht schon wieder geschmolzen war. Er hatte in der Nacht eher das Gefühl gehabt, als würde es regnen.

      Tanner stellte sich unter das warme Wasser und schloss die Augen.

      Immer wieder das Geld. Michel konnte es einfach nicht lassen. Dabei war er selber schuld. Als Tanner durch seinen letzten Fall an ein kleines Vermögen geraten war, hatte er Michel einen Anteil geben wollen, doch der war zu stolz gewesen, es anzunehmen. Denn er hatte es nicht direkt vom Geldgeber persönlich angeboten bekommen. Was ja in seiner beruflichen Position auch gar nicht statthaft gewesen wäre. Es quasi als Geschenk von Tanner zu nehmen, wäre zwar legal, hätte jedoch für Michel die Bedeutung eines Almosens gehabt, wie er sich damals ausdrückte. Tanner hatte schließlich kapituliert und Michels Anteil auf einem Sperrkonto deponiert.

      Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab.

      Die Frage blieb die gleiche: War es nun positiv, dass Michel keine Informationen zu André Tillieux liefern konnte oder nicht?

      Auf jeden Fall musste Marnier heute schleunigst zur Polizei gehen und offiziell eine Vermisstenmeldung erstatten. Nur so konnte die Maschinerie in Gang kommen. Immerhin war es, wenn man den heutigen Morgen mitrechnete, schon acht Tage her, seit der Junge verschwunden war.

      Vielleicht sollte er, nach dem Frühstück und nach seinem Spaziergang, Marnier erneut im Restaurant einen Besuch abstatten und sich ein genaueres Bild über diesen jungen Mann verschaffen. Es konnte nicht schaden, in Form zu bleiben.

      Für die Vorbereitung des Michelschen Gastmahls blieb ihm ja noch der ganze Nachmittag. Er nahm schon mal die Lammkeule aus dem Tiefkühler, denn er wollte sie nach dem Prinzip des langsamen Garens zubereiten. Und das konnte schon mal den halben Nachmittag in Anspruch nehmen.

      Wie hatte Marnier seinen Neffen genannt? Ach ja: komplex. Was verbarg sich hinter diesem etwas allgemeinen Adjektiv? Sollte es vertuschen, dass Marnier ihn in Wirklichkeit nicht mochte? Oder dass ihm sein Wesen und Verhalten zutiefst fremd waren? Marnier hatte im Gespräch ziemlichen Wert darauf gelegt, dass von ihm selbst das Bild des liebevoll sorgenden Onkels entstand. Abgesehen davon sagte ihm sein Gefühl, dass der junge Mann tatsächlich in Schwierigkeiten steckte.

      Wir werden sehen. Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das ist der Tod einer jeden Untersuchung.

      Er griff zum Telefon und teilte Marnier mit, dass er bei der internen Befragung der Polizei nichts erfahren habe und dass Marnier jetzt dringend die Vermisstenanzeige aufgeben müsse. Marnier blieb sachlich und versprach, sofort zu handeln.

      Danach bereitete Tanner sich betont ruhig sein Frühstück zu. Aber er kannte sich gut genug, um sich nichts vorzumachen. Der ewige Virus der Jagd hatte ihn wieder infiziert.

      Als er sich auf seinen täglichen Spaziergang machte, begann eben gerade erst die Morgendämmerung. Es hatte tatsächlich nachts geregnet, der Schnee war größtenteils verschwunden, weswegen der Morgen dunkel, schwer und dumpf wirkte. Kein Vergleich mit dem schneehellen Tagwerden vom vorigen Tag. Viel freundlicher würde es heute wahrscheinlich auch nicht werden, denn am Himmel drängten sich bauchig schwarze Wolken. Einzig die Hügelkuppe entlang zog sich ein glitzernd heller Silberstreifen.

      Die dunklen Zeichen an den Haustüren fielen Tanner erst nach einer Weile auf. Denn die ersten paar hundert Meter war er gegangen, ohne sich die Umgebung genauer anzusehen. Er machte den Spaziergang vom vorigen Tag in umgekehrte Richtung. Erst beim Haus, das direkt in der Haarnadelkurve stand, fiel ihm auf, dass jemand auf die beigefarbene Haustür ein dunkelrotes Zeichen gemalt hatte. Das Zeichen bedeckte etwa die Fläche von vier Männerhänden und war gestern bestimmt noch nicht dort gewesen, dawar er sich ganz sicher. Er blickte zu den anderen Häusern zurück und erkannte irritiert, dass alle Haustüren ein Zeichen in der gleichen Farbe trugen.

      Verwundert setzte Tanner seinen Spaziergang die Eisenbahnschienen entlang fort. Beim Bahnhof weiter vorne hatte eben ein Zug gehalten, und es stiegen eine Handvoll Leute ein. Wahrscheinlich lauter Pendler, die in der Hauptstadt arbeiteten und hier wohnten. Vielleicht auch Schüler, die eine höhere Schule besuchten.

      Als der Zug, noch in langsamer Fahrt, an ihm vorbeifuhr, hatte er das Gefühl, als starrten ihn die Leute durch die beschlagenen Scheiben seltsam an. Einzelne Hände wischten hektisch die Scheiben, um ihn besser zu sehen.

      Irritiert schüttelte er den Kopf.

      Ich bin heute einfach zu früh aufgestanden. Wer geht denn um diese Uhrzeit spazieren, noch bei dem Wetter? Kein Wunder, wenn mich die Leute wie eine Erscheinung anglotzen.

      Bis auf weiteres begegneten ihm lauter Häuser, die sich ihm mit ihrer Rückseite präsentierten, so dass er nicht sehen konnte, ob die Zeichen sich bloß auf das verwahrloste Quartier beschränkten.

      Innerhalb


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