Wintertauber Tod. Urs Schaub

Wintertauber Tod - Urs Schaub


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      Stoffel, du wartest hier.

      Er ging zurück durch den Vorgarten, kniete sich vor die Tür und betrachtete eingehend das gemalte Zeichen. Dann kam er mit schnellen Schritten zurück.

      Tanner, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sie haben vollkommen Recht. Es wurde mit einem Pinsel gemalt. Und vielleicht ist es wirklich, äh … es riecht auf jeden Fall nicht nach Farbe.

      Er roch an seinem Fingernagel, offensichtlich hatte er ein bisschen Material weggekratzt.

      Falls sich herausstellt, dass es sich tatsächlich um Blut handelt, würde ich diese Information vorläufig unter Verschluss halten. Nicht an die Presse, nicht an die Dorfbewohner. Verstehen Sie, was ich meine?

      Ja, klar, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Stoffel, du gehst jetzt von Tür zu Tür und bittest die Leute, die Zeichen nicht abzuwaschen, bis die Polizei es erlaubt. Sag den Leuten, sie könnten sonst mit keinem Schadenersatz rechnen.

      Das ist ein kluger Schachzug, Wagner. Und Stoffel, falls Sie jemanden antreffen, der schon gemerkt hat, dass es sich um keine gewöhnliche Farbe handelt, verpflichten Sie ihn zum Stillschweigen. Womöglich unter Androhung von schwerwiegenden Konsequenzen.

      Stoffel blickte zu Wagner.

      Herr Tanner hat Recht. Vielen Dank für Ihre Hinweise. Wo erreichen wir Sie?

      Ich wohne da vorne in dem weißen Haus im Park. Ansonsten weiß Michel Bescheid. Er kommt heute Abend um acht Uhr sowieso zu mir.

      Tanner setzte seinen Weg fort, sein Ziel war das französische Restaurant. Er hatte jetzt wirklich große Lust auf einen guten Kaffee. Um diese Uhrzeit war das Restaurant natürlich leer, zumal ganz offensichtlich auch niemand in den Gästezimmern übernachtete. Alle Zimmerschlüssel hingen wohlgeordnet an dem kitschig rustikalen Schlüsselbrett an der Wand hinter der kleinen Rezeption. Erst heute bemerkte er den Wechselrahmen mit den Fotos aller Angestellten des Gasthauses. Der Gast sollte sich von Anfang an eine Vorstellung über den Betrieb und seine Mitarbeiter machen. Tanner nahm kurz entschlossen das Bild von der Wand und begab sich damit in die kleine Gaststube.

      Auf der Übersicht waren insgesamt dreizehn Personen zu sehen. Ganz zentral natürlich der Patron samt Gattin. Auf der linken Bildhälfte insgesamt vier Mann Küchenpersonal, zwei Köche, ein Lehrling – André Tillieux – und eine Küchenhilfe. Auf der rechten Seite das Servicepersonal, Zimmermädchen, Gärtner und die Haustechnik.

      Zum ersten Mal sah Tanner ein Bild von André Tillieux. Schmal, mit großen Augen, schaute er melancholisch in eine imaginäre Ferne und wirkte in seinem Kochkostüm alles in allem eher unglücklich und fehl am Platz. Vielleicht war ihm die Kleidung einfach nur zu groß, wer weiß. Oder er ließ sich nicht gerne fotografieren? Tanner wusste um die relative Aussage eines einzelnen Fotos. Vielleicht konnte er heute noch andere Bilder sehen, auf denen André einen ganz anderen Eindruck machte.

      Hallo Tanner. Ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Wollen Sie ein Glas Wein?

      Tanner drehte sich um. Da er Marnier sonst immer nur in seiner ewig weißen Küchenkleidung gesehen hatte, dauerte es einen Moment, bis er ihn erkannte. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem stahlgrauen Hemd und wirkte überraschend elegant.

      Guten Tag, Marnier. Ich sehe, Sie waren in der Stadt und haben die Anzeige gemacht.

      Stimmt. Die haben gesagt, ich müsse jetzt Geduld haben, bis äh, ja, bis sie vielleicht irgendwelche Resultate haben. Ich bin jetzt noch viel mehr in Unruhe als vorher.

      Ja, das verstehe ich. Wir werden gleich darüber reden.

      Ja, entschuldigen Sie. Was wollen Sie trinken?

      Ich hätte gerne einen Milchkaffee, und wenn ich noch ein Croissant dazu bekommen könnte, wäre ich mehr als zufrieden.

      Kommt gleich. Ich werde mich in der Zwischenzeit kurz umändern. Also, ich meine, die Kleidung.

      Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um.

      Ah ja, Sie haben das auch mitbekommen mit den Schmierereien an den Haustüren, oder? Meine Leute sind ganz aufgeregt. Als ich in die Stadt aufbrach, habe ich es gar nicht gesehen, es war noch zu dunkel. Als ich vorhin zurückkam, war das Haus ein Bienenschwarm. Ich musste erst mal alle beruhigen und an die Arbeit schicken. An meiner Haustür ist auch so eine Schweinerei. Hier beim Restaurant zum Glück nicht. Was halten Sie davon?

      Tanner machte eine vage Handbewegung.

      Die Polizei ist bereits im Dorf und sondiert die Lage. Bald werden wir mehr wissen. Die Leute reagieren offenbar zum Teil sehr erschreckt. Ich hoffe, es kommt zu keinen übereilten Schlussfolgerungen.

      Marnier nickte.

      Ich habe jetzt andere Sorgen. Also, ich bin sofort zurück.

      Marnier machte einen sehr viel nervöseren Eindruck als gestern. Wahrscheinlich, weil jetzt das Verschwinden von André offiziell deklariert war. Diese Erfahrung hatte Tanner oft gemacht. Von dem Augenblick an, da die Polizei eingeschaltet war, wurde für viele Leute eine Sache erst richtig real. Und dramatisch. Auch wenn sonst gar nichts Neues passiert war.

      Tanner betrachtete die Fotos der anderen Angestellten. Ob es jemanden gab, den André besonders mochte? Waren es eher die jüngeren Frauen vom Service oder seine deutlich älteren Kochkollegen? Anhand der Bilder allein eine Prognose zu machen war unmöglich. Marnier hatte gestern behauptet, André habe zu ihm selbst das größte Vertrauen. Gut, er war sein Onkel, und solange André minderjährig war, hatte er von seiner Schwester so etwas wie die elterliche Verantwortung übernommen. Das allein sagte aber noch nichts über das wirkliche Verhältnis Andrés zu seinem Onkel aus.

      Mit Ausnahme einer jungen Frau des Servicepersonals, die S. Sanders hieß, und einem Mann namens Viet Dang, der in der Küche half, hatten alle anderen ausschließlich französische Namen. Im nächsten Augenblick servierte die junge Frau, die er gerade auf dem Foto gesehen hatte, den Milchkaffee und das Croissant.

      Guten Tag, hier ist Ihr Kaffee.

      Ich habe gerade Ihr Bild gesehen, Frau Sanders.

      Er deutete auf den Wechselrahmen.

      Aufgrund des Fotos schließe ich, dass Sie noch nicht so lange da sind. Stimmt das?

      Ja, das stimmt. Sehen Sie das denn dem Bild an?

      Schauen Sie selber. Alle anderen Fotos sehen vom Stil und vom Papier her älter aus.

      Gut erkannt, das ist mir noch nie aufgefallen. Also, ich bin seit ungefähr drei Monaten hier.

      Und Sie stammen aus Wien, würde ich sagen.

      Ebenfalls richtig. Sehen Sie das auch dem Foto an?

      Sie lachte und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

      Das habe ich nämlich in Wien machen lassen.

      Nein, das höre ich an Ihrer schönen Sprache.

      Darf ich meinerseits daraus folgern, dass Sie Wien kennen?

      Darüber reden wir ein andermal. Sagen Sie, können Sie mir etwas über André sagen?

      Sie blickte über Tanner hinweg und sprach plötzlich betont laut. Lassen Sie sich den Kaffee schmecken. Rufen Sie mich, wenn Sie noch etwas brauchen. Ich bin drüben in der großen Gaststube und bereite den Mittagstisch vor. Wir haben heute einige Reservierungen.

      Lieber Tanner, haben Sie den Kaffee bekommen? Danke, Sol. Sie können jetzt gehen.

      Betont gelassen sah die Kellnerin ihn an. Dann lächelte sie Tanner zu und ging. Marnier sah wieder so aus, wie Tanner ihn kannte. Der weiß gekleidete Chefkoch Marnier le Grand. Mit seiner gewohnten Kleidung hatte Marnier auch wieder etwas mehr von seiner Ruhe zurückgewonnen.

      Was soll ich jetzt tun, Tanner? Die Anzeige habe ich gemacht.

      Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, müssen Sie mir viele Fragen beantworten. Auch muss ich alle Ihre Angestellten befragen dürfen, aber zuerst möchte ich sämtliche Fotos sehen, die Sie von André haben.


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