Wintertauber Tod. Urs Schaub
Zimmer?
Ich muss mir ein möglichst genaues Bild von André machen, sonst kann ich überhaupt nicht helfen. Ich muss mich in seine Gedankenwelt einfühlen können. Sonst hat alles keinen Sinn. Meine Mutter sagte immer: Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist.
Gut. Ich verstehe. Soll ich Ihnen das Zimmer gleich zeigen?
Ja, bitte. Pardon, wo ist eigentlich Ihre Frau, Marnier? Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen.
Sie ist für ein paar Wochen bei ihrer Schwester in Kanada.
Weiß Ihre Schwester denn, dass ihr Sohn spurlos verschwunden ist?
Ja, sicher, ich habe es ihr vorgestern gesagt. Sie wird morgen oder übermorgen hier eintreffen.
Und was ist mit dem Vater?
Von André, meinen Sie?
Ja.
Er ist schon seit vielen Jahren tot. Verkehrsunfall mit Motorrad. Sehr tragisch. André war damals noch nicht mal vier Jahre alt.
Und ist Ihre Schwester wieder verheiratet?
Ja, aber ihr zweiter Mann, den sie erst vor drei Jahren geheiratet hat, ist im letzten Sommer an Krebs gestorben. Bitte, hier ist das Zimmer von André. Wir durften es ja nicht betreten, da war André sehr eigen. Er hat darauf bestanden, seine Privatsphäre zu haben.
War? Sie haben gesagt, André war sehr eigen.
Oh, mon dieu, nein, das habe ich nicht gemeint. Sie verstehen, Deutsch ist eine schwere Sprache und –
Tanner winkte ab.
Und? Haben Sie seine Privatsphäre respektiert?
Selbstverständlich. Er musste dann halt sein Zimmer auch selber putzen und so. Das, äh, ist die Konsequenz.
Marnier und Tanner waren während des Gesprächs die Treppe bis unter das Dach des Gasthauses gestiegen.
Ich werde jetzt ganz allein in das Zimmer gehen und eine Weile da drinnen bleiben, Marnier.
Ich verstehe. Ich muss an den Herd. Wir haben bestellte Gäste und die wollen etwas zu Mittag essen. Sie finden mich dann in die Küche.
Tanner stand noch eine Weile im Gang, bis er Marniers Schritte nicht mehr hörte. Dann erst öffnete er die Tür.
Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, zudem waren die Vorhänge dicht zugezogen, so dass man vom Zimmer nicht viel erkennen konnte. Er tastete nach einem Lichtschalter.
Das kleine Zimmer mit abgeschrägter Wand sah aus wie eine Müllhalde. Das zerwühlte Bett, der kleine Tisch und jeder Zentimeter des freien Raumes waren mehrschichtig übersät mit Kleidern, Schuhen, Zeitschriften und vielem mehr.
Tanner lächelte.
Selber putzen? Oh je. Ordnungsliebend ist er nicht, der André, das steht schon mal fest.
Tanner bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Chaos, möglichst ohne etwas zu verändern, öffnete Vorhang und Fenster, ließ die kalte Morgenluft ins Zimmer. Er befreite den einzigen Stuhl von einem Stapel frisch gebügelter Bettwäsche, die André dem Geruch nach zu urteilen selber nie gewechselt hatte.
Privatsphäre gab es hier jede Menge, allerdings war sie keinesfalls malerisch oder besonders appetitlich. Tanner setzte sich behutsam auf den Stuhl und schaute sich um. Der einzige Ort, der nicht vom Ordnungsprinzip Zufall regiert war, schien das Gebiet um den ziemlich teuren CD-Player mit Sennheiserkopfhörern zu sein. Die CD-Hüllen lagen ordentlich aufgereiht nebeneinander, was ja durchaus von praktischem Nutzen war. Hätte André eine bestimmte Musik hören wollen – ein Griff und er hätte die CD zur Hand. Eine saubere Unterhose zu finden – dazu hätte man schon einen ganzen Suchtrupp losschicken müssen. Aber wer weiß, vielleicht folgte Andrés Stapelbildungssystem ja einer unsichtbaren Logik. Tanner hätte ein mehrstrophiges Lied über die Diskussionen mit seinem eigenen Sohn zu singen gewusst, was imaginäre Ordnungsprinzipien anbelangte.
Von seinem Stuhl aus konnte Tanner den schmalen Kleiderschrank öffnen. Er war komplett leer. André hatte offenbar nie etwas eingeräumt, sondern sich von Anfang an für die allgemeine Bodenhaltung seiner Siebensachen entschieden. Vielleicht bedeutete der leere Schrank auch, dass er sich hier nicht hatte niederlassen wollen.
Tanner betrachtete die Wände.
An der Wand über dem Bett hing ein einziges Bild. Es war ein kleinformatiges Poster der isländischen Sängerin Björk. Offensichtlich hatte sie das Bild persönlich signiert. Quer über das Bild war mit dickem Filzstift ihr Name geschrieben.
Er nahm sich die CD-Sammlung systematisch vor. Tatsächlich fand er hier nicht den allgemein verbreiteten Hip-Hop-Verschnitt der durchschnittlichen Altersgenossen von André, sondern ein breites musikalisches Spektrum, bis hin zu klassischer Musik. Die Zauberflöte war gleich in drei verschiedenen Aufnahmen vorhanden.
Tanner schaute sich um.
Also, was habe ich bis jetzt? Was Ordnung und Sauberkeit betrifft, ist André eindeutig noch im Ferkelalter. Musikalisch hingegen kann man ihn als fortgeschritten einstufen.
Er schloss das Fenster. In diesem Moment klopfte es sehr leise an die Tür, dann ein Kratzen.
Interessant. Klingt nicht wie das erste Mal.
Tanner fuhr sich durch die Haare und schloss mit sich schnell eine Wette ab, dass es die junge Frau aus Wien war, die vor der Tür stand.
Kommen Sie herein, Frau Sanders.
Woher wussten Sie …?
Ja, das war nun nicht besonders schwer. Treten Sie näher.
Sie setzte sich zögernd auf den Rand des Bettes. Offenbar erstaunte sie die Unordnung im Zimmer nicht besonders.
Sie sind nicht das erste Mal hier, oder?
Sie schüttelte den Kopf.
Was haben Sie denn für ein Verhältnis zu André?
Energisch richtete sie ihren Kopf auf.
Ich habe kein Verhältnis mit André.
Das habe ich ja auch nicht gesagt.
Stimmt. Entschuldigung. Was soll ich sagen – ich mag ihn, und ich hatte von Anfang an das Gefühl, er braucht ein bisschen Hilfe.
Nachdem Madame abgereist ist, noch mehr.
Wann ist Madame denn abgereist?
Sie überlegte einen Moment.
Vor etwa drei Wochen.
Und wissen Sie, warum?
Monsieur und Madame haben viel gestritten. Ich glaube, es ging um Geld. Aber genau weiß ich es auch nicht. Aber sagen Sie bitte niemandem, dass Sie das von mir haben.
Keine Angst. Hat Monsieur auch mit André gestritten? Sie brauchen nur mit dem Kopf zu nicken, wenn es stimmt.
Sie nickte heftig.
Vielen Dank. Sie gehen jetzt besser wieder an Ihre Arbeit. Wir werden bei einer anderen Gelegenheit miteinander reden. Es wäre nicht gut, wenn man Sie hier sehen würde.
Sie nickte wieder, stand auf und öffnete die Tür.
Frau Sanders, was wollten Sie eigentlich hier?
Sie haben mich doch gefragt, ob ich Ihnen etwas zu André sagen kann, oder?
Ach ja, stimmt. Und? Was können Sie mir sagen? Und machen Sie doch bitte noch einmal die Tür zu.
Sie schloss leise die Tür, blieb aber stehen.
Ich weiß, dass er vor etwas Angst hatte.
Aber Sie wissen nicht vor was?
Doch. Er hat es mir gesagt.
Tanner schaute sie erwartungsvoll an.
Leider weiß ich nichts Genaues, aber er hat mir gesagt, dass es eine Person gebe, vor der er wirklich