Wintertauber Tod. Urs Schaub
Herr möchte seine Rechnung, Carlo. Also, welche Stelle haben Sie gesucht?
Ja, wissen Sie, diese Stelle mit dem Blut. Mit dem Blut an den Haustüren. Ich habe gedacht, das sei eine Geschichte aus dem Alten Testament, und bald habe ich das halbe Buch gelesen, aber die Stelle habe ich immer noch nicht gefunden.
Ich kenne die Stelle, von der Sie reden. Und sie steht tatsächlich im Alten Testament.
Carlo kam herangeschlurft.
Sie möchten die Rechnung?
Bringen Sie mir noch einen Kaffee. Möchten Sie auch etwas trinken, Frau äh, Schön?
Sie nickte.
Nennen Sie mich bitte Anita. Ich möchte einen Schwarztee.
Also, Sie kennen die Stelle? Wo steht denn das mit dem Blut?
Er schob die Bibel über den Tisch zu ihr hinüber.
Sie schob die Bibel zurück.
Zweites Buch Moses, Kapitel zwölf.
Wie bitte?
Das ist die Stelle, die Sie suchen.
Und das wissen Sie auswendig?
Ja. Schauen Sie nach.
Michels Gesichtsausdruck blieb skeptisch, aber er blätterte, fand die Stelle und begann zu lesen.
Er blickte auf und lächelte.
Das ist ja unglaublich. Sie haben Recht. Kennen Sie die ganze Bibel auswendig?
Anita lachte.
Nein, nein. Aber lesen Sie jetzt erst einmal die Stelle. Ich trinke meinen Tee.
Anita hatte längst ihren Tee getrunken, als Michel wieder aufblickte, denn er war ein langsamer Leser.
Er schlug das Buch wütend zu.
Mein Gott, das ist ja furchtbar.
Was meinen Sie?
Na ja, die ganze Geschichte. Ich meine, hier wird von einer ungeheuren Brutalität berichtet. Gegen Unschuldige. Gegen Kinder. Das ist ja ekelhaft. Ekelhaft und tragisch.
Michels Wut war nicht gespielt. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Carlo, noch ein großes Bier.
Was meinen Sie mit tragisch?
Anita fragte ihn ganz ruhig.
Nun, ich lese hier von den furchtbarsten Brutalitäten, und noch heute geht es dort, wo sich die biblischen Geschichten zugetragen haben, immer wieder schrecklich zu. Und keine Lösung in Sicht.
Und auch noch alles im Namen Gottes. Was soll denn das für ein Gott sein? Schon als Kind kam ich damit nicht klar.
Sie haben natürlich Recht. Dahinter verbirgt sich eine große Tragik. Aber das eine hat nicht zwingend etwas mit dem anderen zu tun. Es handelt sich ja noch nicht um einen heutigen Staat, sondern ganz generell um das auserwählte Volk Gottes als Idee. Abgesehen davon finden sich bei allen Staatsgründungen auf der ganzen Welt üble Dinge. Auch bei unserem Staat. Interessant ist aber tatsächlich die Rolle dieses Gottes, da haben Sie vollkommen Recht.
Auserwähltes Volk Gottes! Wenn ich das schon höre. Das ist doch pubertärer Blödsinn. Und mit was für Folgen! Vor allem: Was ist das für ein Gott, der sein auserwähltes Volk nur aus Ägypten führen kann, indem er alle erstgeborenen Tiere und Menschen ermordet? Und das in einer einzigen Nacht! Stellen Sie sich das vor, Anita. Ein Massaker! Und das soll ein Gott sein, noch dazu ein allmächtiger? Einen Massenmörder nenne ich das, der gehört doch vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Anita lachte.
Sie sind lustig. Aber das Ganze ist doch vor mehr als dreitausend Jahren passiert. Sie müssen es mehr als Mythos sehen. Nicht wie Tagespolitik.
Ach ja? Na, mir soll es egal sein. Ich habe es aus einem ganz anderen Grund gelesen.
Michel nahm sein Bier entgegen und leerte es bis auf die Hälfte.
Warum haben Sie es denn gelesen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin Kommissar der Mordkommission, und es hat mit einem komplizierten Fall zu tun. Ach ja. Entschuldigung, ich heiße Michel. Also, Serge Michel. Verstehen Sie? Michel ist mein Nachname.
Ich verstehe. Serge ist ein schöner Name, den man nicht oft hört.
Das stimmt. Mich nennen sowieso alle Michel.
Gut. Dann sage ich Serge. Hat es denn etwas mit dem Blut an den Türen zu tun? Am Anfang erwähnten Sie nämlich das Blut.
Ganz genau.
Michel beugte sich über den Tisch und senkte seine Stimme.
Wir haben nämlichen einen Irren, der Haustüren mit Blut beschmiert.
Ihr habt ihn schon?
Nein, ich meine, es gibt einen, der das tut. Lesen Sie keine Zeitung? Die Presse ist heute voll davon.
Nein, ich habe heute tatsächlich noch keine Zeitung angeschaut. Aha. Und der beschmiert also Haustüren? Mit dem Blut von Lämmern, wie in der Bibel?
Nein, nein. Schlimmer. Wahrscheinlich handelt es sich um Katzenblut.
Das ist ein kranker Mensch.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich dachte, möglicherweise ist er religiös motiviert.
Und dann? Wäre er dann weniger krank?
Wir wissen noch nichts über sein Motiv, wissen Sie. Genauso wenig haben wir eine Ahnung über sein Ziel. Wenn er denn eins hat. Er hat bis jetzt drei sehr ungewöhnliche Dinge getan. Er hat mindestens zwanzig Katzen eingesammelt, hat sie geschlachtet und mit ihrem Blut auf neunundzwanzig Türen Zeichen gemalt. Und das alles in einem kleinen Dorf, das jetzt ziemlich unter Schock steht.
Das kann ich mir vorstellen. Weiß man denn schon etwas über die Bedeutung der Zeichen?
Mein Kollege, also äh, ein Freund von mir kümmert sich darum. Er versteht mehr davon als ich. Aber wissen tun wir noch so gut wie gar nichts.
Anita lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
Wenn die biblische Szene wirklich Vorbild sein sollte, wäre das Blut ein Zeichen des Schutzes. Das heißt: Alle, die Blut an der Tür haben, werden verschont. Würde das einen Sinn ergeben?
Michel legte seine Stirn in Falten.
Wenn ich das wüsste.
Dann lehnte er sich ebenfalls zurück und kam eigentlich erst jetzt dazu, sein Gegenüber in Ruhe zu betrachten.
Wie kam es, dass sich ein derart hübsches Wesen so gut in der Bibel auskannte? Klug war sie auch. Sein Bild einer frommen Frau sah ganz anders aus.
Er räusperte sich.
Wie kommt es, dass Sie die Bibel so gut kennen?
Sie lachte.
Wie kommt es, dass Sie die Bibel nicht kennen, Serge? Es handelt sich dabei immerhin um eine der wichtigsten Grundlagen unserer westlichen Kultur.
Michels Hand fegte durch die Luft, als wollte sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen.
Ich glaube nicht an Gott und so. Es interessiert mich einfach nicht. Hat es noch nie getan. Der Unterricht in der Schule war grauenhaft langweilig. Abgesehen davon, dass es mit unserem praktischen Leben rein gar nichts zu tun hat.
So, so. Was Sie nicht sagen.
Sie beugte sich vor und stützte das Gesicht auf ihre Hände.
Nehmen wir doch mal Ihren Beruf. Sie klären Morde auf und sorgen dafür, dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden. All das tun Sie, weil es in der Bibel heißt: Du sollst nicht töten.
Michel verdrehte die Augen.
Weshalb würden Sie es sonst tun?