Wintertauber Tod. Urs Schaub
natürlich eine kleine Sensation: Die beiden Damen waren von seiner imposanten Erscheinung und von seinem Charme hingerissen. Vor allem Solène hing entzückt an seinen Lippen, und es schien, als besäße sie die Gabe, seine Inspiration ins Unendliche zu steigern. Bereits nach zwei Flaschen Weißwein und drei Flaschen Rotwein (allesamt vom Weingebiet auf der gegenüberliegenden Seeseite) begann er von seinem glücklichen und ereignisreichen vorherigen Leben als Maharadscha des kleinen Königsstaats Phukhtu in Indien zu berichten. Seine ausufernden Abenteuergeschichten kamen derart bestechend und detailgetreu daher, dass sich selbst Tanner dann und wann dabei ertappte, wie er ihm Glauben schenkte. Michel hatte sich auch in allen anderen Belangen übertroffen, und so übernachtete er in Tanners Wohnzimmer und schlief, die gesamten indischen Wald- und Holzreserven zersägend, seinen gewaltigen Lügenrausch aus. Eine Heimfahrt im Auto wäre einer Kriegserklärung an Land und Leute gleichgekommen. Deswegen konnten die beiden Männer erst am nächsten Morgen ihre beruflichen Probleme erörtern. Das heißt, es sprach vorwiegend Tanner, denn Michels Bewusstsein war zu Beginn des Frühstücks noch stark umnebelt. Die Unterlagen über die seltsamen Todesfälle im städtischen Spital (vorwiegend Männer) hatte er sowieso vergessen. Er habe sich eben um den Smoking kümmern müssen und darüber das Wichtigste vergessen. So die Ausrede. Allerdings lieferte auch das Dorf genug Gesprächsstoff. Am Abend zuvor hatten die beiden Schwestern natürlich immer wieder über die mysteriösen Vorgänge diskutieren wollen, was Tanner und Michel jedoch teils aus Schweigepflicht, teils um die Stimmung nicht zu verderben, abblockten. Jetzt konnten sie endlich ungestört reden.
Gegen Ende des Frühstücks erhielt Michel den Anruf vom Labor. Ich habe es doch geahnt, Michel. Und die Schlafmützen wissen immer noch nicht, ob es Katzenblut ist?
Nein. Ich kann auch nichts dafür, das muss noch weiter untersucht werden.
Nun gut, wir werden sehen. Aber es kann doch kein Zufall sein, dass kurz vorher jemand an die zwanzig Katzen verschwinden lässt, oder? Der hat die doch geschlachtet und mit dem Blut die Zeichen gemalt, da mache ich jede Wette.
Du sprichst von einem Monster, von einer Bestie, Tanner.
Wenn überhaupt, so spreche ich von einem kranken Menschen. Aber wenn du es vorziehst, kannst du gerne von der Bestie Mensch sprechen. Diese dünne Humusschicht aus Erziehung und Kultur, die uns vom Verhalten einer Bestie trennt, kann je nach Situation blitzschnell –
Bitte, Tanner, heute Morgen ertrage ich keine Vorträge. Ich weiß, es ist dein Lieblingsthema, du könntest mir jetzt stundenlang wissenschaftliche Fakten um die Ohren hauen und mich am Schluss mit den farbigsten Beispielen k.o. schlagen, um zum Wiederaufwachen dann noch das hohe Lied auf Shakespeare anzustimmen, deinen literarischen Lieblingsgott, der all das schon gewusst hat: die Natur, die machtvoll ist und böse, ebenso die Natur des Menschen, und so weiter. Aber verschone mich heute bitte. Ich bin nicht in Stimmung. Zudem kenne ich deinen Vortrag in- und auswendig. Mal ganz was Praktisches: Hast du eine Schachtel Aspirin?
Muss es eine ganze Schachtel sein oder genügen zwei Tabletten? Ach, Tanner jetzt sei nicht beleidigt. Du hast ja Recht mit allem, aber ich habe einfach Kopfschmerzen. Ja, es genügen zwei Tabletten.
Tanner wartete, bis Michel seine beiden Tabletten geschluckt hatte.
Wie denkst denn du über die Sache?
Ja, wie denke ich? Da hat jemand einem ganzen Dorf den Krieg erklärt, denke ich.
Und wieso sollte ein Einzelner so was tun?
Michel schob ein Stück Brot mit Marmelade in den Mund.
Er fühlt sich vielleicht nicht besonders geliebt.
Und dann stiehlt man zwanzig Katzen, schlachtet sie und beschmiert mit dem Blut die Haustüren?
Er ist eben krank. Wie du in deinem Vortrag sicher schlüssig bewiesen hättest, wenn ich dich gelassen hätte. Abgesehen davon – wir wissen immer noch nicht, ob es wirklich Katzenblut ist.
Okay. Vielleicht hast du Recht, Michel. In diesem Dorf würde es mich auch gar nicht wundern, wenn jemand einen solchen Hass entwickelte.
Tanner überlegte einen Moment.
Du kennst ja sicher den Satz, dass es zur Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht.
Nein, habe ich noch nie gehört. Stimmt das denn?
Natürlich stimmt das. Das genau ist ja heute das Problem.
Was ist das Problem?
Dass es zumeist dieses Dorf nicht mehr gibt.
Welches Dorf meinst du?
Michel sprach mit vollem Mund. Er war so aufs Essen konzentriert, dass sein Gehirn wieder einmal ausgeschaltet war.
Tanner seufzte.
Also, soll ich es dir wirklich erklären?
Selbstverständlich. Ich lerne gern dazu.
Mit dem zitierten Satz ist die Erkenntnis gemeint, dass ein Kind, um die Vielfalt des Lebens und vor allem auch die Vielzahl der notwendigen Verhaltensregeln zu lernen und zu verinnerlichen, eine gewisse Anzahl miteinander kommunizierender Menschen braucht, die es über eine lange Zeitspanne seines Lebens hautnah erleben und damit auch die Fähigkeit entwickeln kann, die verschiedensten Arten von Beziehungen aufzubauen. Traditionell gehören – neben den Eltern und vielen Geschwistern – die Großeltern, möglichst viele Großtanten und Großonkel, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins dazu. Sowie Nachbarn, Freunde und Bekannte. Ein ganzes Universum eben, auf das sich ein Kind beziehen kann, und von dem es gleichsam allmählich geformt und erzogen wird. Die Regeln, die zum Beispiel die Eltern aufstellen, können vom Kind in genau dieser Form oder als Varianten bei den anderen erlebt werden. Und so lernt der kleine Mensch sinnfällig durch gelebte Beispiele und wird durch ein vielfältiges Beziehungsnetz mit sich und der Welt konfrontiert. Er lernt die Regeln, all die Codes, er lernt Einfühlung und so weiter. Verstehst du, Michel? Soll ich noch eine neue Marmelade aufmachen?
Nein, nein, mir reicht diese. Danke. Und was hat das jetzt alles mit unserem Dorf zu tun?
Nun, ich habe dir eben einen positiven Verlauf geschildert. Einen Modellfall, sozusagen. Das Prinzip hängt gar nicht mal so sehr von der Sippe, respektive Großfamilie, ab, die es ja heute bekanntlich in der beschriebenen Form nur noch selten gibt. Dieses sogenannte »Dorf« kann in der Stadt auch ein kleines, vertrautes Quartier sein, ein Wohnblock oder eben ein veritables Dorf wie dieses hier.
Tanner ließ Michel etwas Zeit. Dann erklärte er weiter.
Da, wo es dieses Dorf, in welcher Form auch immer, eben nicht gibt, entstehen die Schwierigkeiten.
Michel schaute ihn fragend an.
Ja, verstehst du denn nicht? Es kann ja auch einmal schief laufen. Ein Einzelner wird von seinem Dorf aus irgendeinem Grund abgelehnt, ja vielleicht sogar gequält. Es wurde ihm oder seinen Lieben ein gravierendes Unrecht angetan, was weiß ich. Die Familie wurde ausgegrenzt, aus religiösen, politischen und anderen Gründen. Es gibt Orte, da reicht dafür schon die falsche Hautfarbe. Verstehst du? Insofern könntest du Recht haben.
Womit könnte ich Recht haben?
Tanner verdrehte die Augen.
Ja, du hast doch gesagt, er fühlt sich vielleicht nicht besonders geliebt.
Ach so, ja genau. So könnte es sein.
Wie geht ihr denn jetzt vor, Michel?
Michel lehnte sich zurück und steckte sich ein letztes Stück Brot in den Mund.
Ich sehe es doch auf deine Stirn gemeißelt, dass du bereits einen Schlachtplan hast, und da will ich dir natürlich nicht vorgreifen. Du, übrigens, die Marmelade schmeckt ausgezeichnet. Hast du die selbst eingemacht?
Nein, die hat mir erst gestern Abend Solange mitgebracht. Sie hat sie eingemacht. Was ich damit sagen will: Wir haben das Glas gerade erst aufgemacht.
Aha. Solange kann also gut Marmelade einkochen. Sieh an. Schade, dass das Glas jetzt schon leer ist. Aber sie kocht dir sicher noch eine Marmelade, meinst du nicht? Wenn du sie freundlich