Baiern und Romanen. Peter Wiesinger
westgermanischen Gruppen dehnten sich während der Römerzeit die Weser-Rhein-Germanen bis nach Nordfrankreich und an den Atlantik nach Westen und die Elbgermanen bis an den süddeutschen römischen Limes nach Süden aus, während um die Mitte des 5. Jhs. die zunächst auf der jütischen Halbinsel siedelnden Angeln, ein Teil der Sachsen und die Jüten nach England abwanderten und dort das Angelsächsische (oder Altenglische) entstand. Von den skandinavischen Nordgermanen war ein Teil bereits um die Mitte des 1. Jahrtausends v.Chr. über die Ostsee in das gegenüber liegende Gebiet an der unteren Weichsel abgewandert, der die sogenannten älteren Oder-Weichsel-Germanen bildete, aus denen die Bastarnen und die Skiren hervorgingen, die dann um die Mitte des 3. Jhs. v.Chr. nach Südosten ans Schwarze Meer zogen. Ihnen folgten als weitere nordgermanische Abwanderer die von der Ostsee bis Schlesien siedelnden Rugier, Burgunden und Wandalen, ehe sich um Chr. Geb. an der unteren Weichsel die Goten niederließen, die insgesamt als jüngere Oder-Weichsel-Germanen zusammengefasst werden. Sie alle bildeten den eigenen Sprachzweig des Ostgermanischen. Während der Völkerwanderung drangen diese Stämme vom 3. bis 6. Jh. in die antike Welt ein und errichteten vorübergehende Reiche, die ebenso untergingen wie ihre Sprachen verschwanden. Lediglich das Gotische ist in der Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila vom Ende des 4. Jhs. in einer Abschrift des 6. Jhs. aus dem Ostgotenreich in Italien als einziges ostgermanisches und zugleich überhaupt ältestes germanisches Textzeugnis in einem eigenen Alphabet überliefert.
Aus den westgermanischen Stammesverbänden, die sich nach Westen und Süden ausgebreitet hatten, gingen schließlich jene Stämme hervor, die die Träger der seit dem 8. Jh. überlieferten Sprachen und ihrer Dialekte wurden. Zu den Nordseegermanen gehören die Angelsachsen, Friesen und Sachsen mit Angelsächsisch (oder Altenglisch), Friesisch und Altsächsisch (oder Altniederdeutsch). Aus den Weser-Rhein-Germanen entstanden die verschiedenen Gruppen der Franken und die Hessen. Von ihren Dialekten ging das Westfränkische im Französischen auf und sind die einzelnen fränkischen Dialekte unterschiedlich überliefert, während vom Hessischen Textzeugnisse fehlen. Im Einzelnen steht das Niederfränkische in Kontakt mit dem Altsächsischen, teilte sich das Mittelfränkische später in das nördliche Ripuarische und das südliche Moselfränkische, dem nach Süden das Rheinfränkische und nach Osten das Ostfränkische folgt. Das jüngere Hessische wurde lange als nördliches Rheinfränkisch verstanden, ehe erkannt wurde, dass der Zentralraum mit dem Moselfränkischen korrespondiert.1 Am weitesten nach Süden drangen die Elbgermanen vor, die schließlich zu Alemannen im Südwesten und zu Baiern im Südosten wurden. Zu ihnen gehören auch die bis ins 6. Jh. selbständigen Thüringer, deren Herrschaftsgebiet 531 von den Franken erobert und aufgelöst wurde, sowie die über Südmähren und Pannonien 568 nach Italien gezogenen Langobarden, die dort bis 774 residierten. Letztere hinterließen keine Textzeugnisse, und ihre Sprache ging in den verschiedenen romanischen Idiomen auf. Die sprachlichen Beziehungen und Entwicklungen erlauben es, die auf die Weser-Rhein-Germanen und die Elbgermanen zurückgehenden Dialekte vom 8. bis zur Mitte des 11. Jhs. als Althochdeutsch zusammenzufassen. Über das Mittelhochdeutsche des 12. und 13. Jhs. bildeten sich durch Weiterentwicklungen die neuhochdeutschen Dialekte des Westmitteldeutschen mit Rheinfränkisch, Hessisch, Moselfränkisch und Ripuarisch und des Oberdeutschen mit Alemannisch, Bairisch und Ostfränkisch. Altsächsisch und das eine Zwischenstellung einnehmende Niederfränkische können zwar als Altniederdeutsch bezeichnet werden, doch ist man davon insofern abgekommen, als aus dem Niederfränkischen in Belgien und den Niederlanden das Niederländische als eigene Sprache hervorgegangen ist. Dazu gehörte auch das textlose, nur aus Orts- und Personennamen bekannte Westfränkische in der belgischen Wallonie und in Nordfrankreich, das in den altfranzösischen Idiomen jener Gebiete aufging.
Das Bairische ist also im Kreis der westgermanischen Sprachen und Dialekte elbgermanischer Herkunft und daher eng verwandt mit dem Alemannischen, wobei sich beide Dialekte seit althochdeutscher Zeit immer stärker auseinander entwickelt haben.2 Wenn das Bairische mit dem Alemannischen einige quasi „nordgermanische“ Erscheinungen teilt, so gehen diese auf frühe elbgermanisch-ostgermanische Kontakte im Odergebiet vor der Süd- bzw. Südostwanderung der einzelnen Stämme zurück. Sie werden, da nur die ostgermanische Sprache der Goten überliefert ist, vereinfachend, doch missverständlich als „elbgermanisch-gotische Kontakte“ bezeichnet. Tatsächlich bairisch-gotische Sprachkontakte ergaben sich, als die Ostgoten nach 490 unter Theoderich von Italien aus die Herrschaft über die Raetia secunda und Noricum übernahmen, wovon einige gotische Lehnwörter im Bairischen zeugen, wie die Wochentagsnamen Ergetag für Dienstag, Pfinztag für Donnerstag und das ahd. pherintag für Freitag.3 Im Gegensatz zu der in den 1980er Jahren fälschlich behaupteten, doch widerlegten angeblichen romanischen Prägung des Bairischen, worauf noch zurückzukommen sein wird, ist dieses von Anfang an eine völlig germanisch geprägte Sprache ohne jegliche konstitutive romanische Elemente. Wenn im Südbairischen des Alpenraumes von Tirol und Kärnten besonders im Wortschatz romanische Elemente auftreten, so sind sie das Ergebnis von Sprachkontakten einerseits als Substrate des ausgestorbenen Romanischen und andererseits als Lehnwörter aus den südlich angrenzenden alpenromanischen (ladinischen) Dialekten und dem Italienischen.4
Im Hinblick auf die bairische Ethnogenese ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht jedenfalls festzuhalten, dass das Bairische elbgermanisch geprägt ist. Daraus ist zu folgern, dass der prägende Bevölkerungsanteil aus Elbgermanen bestand und daher gegenüber den anderen beteiligten Germanengruppen und den Restromanen den überwiegenden Teil ausgemacht haben muss. Wahrscheinlich war er wesentlich höher als jene gerade 60 %, die sich aus den obgenannten vermuteten Anteilen von ca. 25 % Alemannen, 25 % Langobarden und 10 % Thüringern ergeben, sonst hätte sich das Elbgermanische nicht zum Bairischen entwickelt und durchgesetzt.
1.5. Herkunft und Identitätsbildung der Baiern in neuer Sicht
1.5.1. Die Situation
Da in der Forschung wissenschaftliche Erkenntnisse und Standpunkte stets hinterfragt werden und vor allem eine nachrückende jüngere Generation gegenüber ihren Vorgängern nach trefflicheren Einsichten strebt, ja seit den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 auch in der Wissenschaft Traditionen bewusst abgebrochen und neue Gegenpositionen aufgebaut werden, ist das dargestellte Bild von Herkunft, Name und Ethnogenese der Baiern nach der Jahrtausendwende sukzessive, besonders aber von Archäologen, doch teilweise auch von Historikern und Sprachwissenschaftlern abgebaut worden. Den neuen, noch heterogenen Forschungsstand von über 20 Jahren nach der Baiernausstellung von 1988 versuchen der Freiburger Archäologe Hubert Fehr und die Münchener Historikerin Irmtraut Heitmeier auf der Basis einer 2010 in Benediktbeuern veranstalteten Tagung in dem 2012 erschienenen umfänglichen Sammelband „Die Anfänge Bayerns“ mit dem spezifizierenden Untertitel „Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria“ darzustellen. Das nach wie vor große Interesse an diesen Fragen bewirkte 2014 dessen 2. Auflage. Die meisten neuen Thesen, die keinen Stein auf dem anderen lassen, wurden aber schon vorher vorgetragen.
1.5.2. Die Ansichten der Archäologen
Die Neuansätze eröffnete 2002 der Münchener Archäologe Arno Rettner mit seiner noch zurückhaltenden, doch deutlich fragenden Studie „402, 431, 476 – und dann?“ mit dem Untertitel „Archäologische Hinweise zum Fortleben romanischer Bevölkerung im frühmittelalterlichen Südbayern“. Neue Gräberfunde des 5. Jhs. einer sicher povinzialrömischen Bevölkerung ‒ kurz Romanen genannt ‒ führten dazu, bisher angenommene Anhaltspunkte für einen Rückzug von Romanen zeitlich immer mehr hinaufzuschieben. Damit bezog man sich freilich zunächst auf die Reduktion des römischen Militärs und der Verwaltung, indem man mit Truppenabzug 401/02 unter Stilicho und nach den Juthungenkämpfen des Aetius 429/31 rechnete, während man mit dem Ende des weströmischen Reiches 476 und damit dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft überhaupt einen großen Weggang der Romanen annahm. Rettner aber zeigt, dass in den neu entdeckten Gräberfeldern von St. Ulrich und Afra in Augsburg, am Lorenzberg in Epfach am Lech – beide im alemannisch-schwäbischen Gebiet – sowie im bairischen Altenerding die romanische Bestattungsweise mit geringen Beigaben dominiert und germanisches Totenbrauchtum mit Waffenbeigaben bei Männern und etwa mit Amulettgehängen und als „Vierfibeltracht“ bei Frauen stark zurücktreten oder überhaupt fehlen. So stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, von „Restromanen“ angesichts der Ethnogenese der Baiern