Baiern und Romanen. Peter Wiesinger
Bayerns aus archäologischer und namenkundlicher Sicht“ vor und stellte damit die geltenden Ansichten auf beiden Gebieten in Frage. Archäologisch konstatiert Rettner in den Reihengräbern starke Unterschiede in Grabbeigaben im bayerischen Donauraum nördlich und südlich des römischen Limes in der Merowingerzeit besonders nach dem Tod Severins 482 und dem Rückzug der Romanen nach Italien 488 in Noricum. So fehlt etwa in Männergräbern südlich der Donau die nördliche Mitbestattung von Reitzubehör und Pferden und in Frauengräbern vielfach die nördliche Beigabe von Webschwertern, und in beiden Fällen sind Speisebeigaben im Süden geringer als im Norden. Daraus wird die unterschiedliche Nachwirkung romanischer bzw. germanischer Bestattungssitten und damit das Bestehen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, vor allem ein hoher fortbestehender Anteil an Romanen im ehemals römischen Gebiet der Raetia secunda, gefolgert. Deshalb sucht Rettner nach weiteren Argumenten für romanische Kontinuitäten der Baiern in ihrem Siedlungsraum südlich der Donau. Dazu zieht er, obwohl kein Sprachwissenschaftler, die eingedeutschten Ortsnamen romanischer Herkunft als tradierte echte antik-romanische Bildungen und als romanisch-deutsche Mischnamen, das sind neue deutsche Bildungen mit romanischen Personennamen, heran. Bei Letzteren wird angenommen, dass die anfängliche Bewohnerschaft romanisch war und auch romanisch sprach und sich schließlich das deutsche Idiom der hinzugetretenen und zunehmenden deutschen Bewohnerschaft durchsetzte. Da Rettner dabei auf verschiedene ältere Arbeiten zurückgreift, nennt er auch solche Ortsnamen, für die eine früher versuchte romanische Etymologie sich nicht mehr halten lässt. Ebenso bedient sich Rettner der noch zu besprechenden, in den 1980er Jahren vom Klagenfurter Allgemeinen Sprachwissenschaftler und Romanisten Willi Mayerthaler vorgetragenen These, wonach das Bairische eine Kreolsprache mit romanischer Grundlage und germanisierter alemannischer Überformung sei, ohne aber die von der Germanistik bereits damals vorgetragene Kritik und Widerlegungen auch nur mit einem Wort zu erwähnen. So werden für Rettner die Baiern des 6. Jhs. zu „einer romanisch-germanischen Mischbevölkerung zwischen Alpen und Donau, die sich eben durch dieses Spezifikum … von den benachbarten Alamannen, Langobarden oder Franken abhob“.1
Mit der Zurückweisung der anhand der Keramik des Typus Přešt’ovice ‒ Friedenhain aufgezeigten archäologischen Zusammenhänge von Südböhmen und Bayern bezweifelt Rettner schließlich auch die germanische Etymologie des Baiernnamens und sucht nach einer romanischen. Er glaubt, sie in lautähnlichem lat. baiulare ‚Lasten tragen, schleppen‘ und lat. baiulus ‚Lastenträger‘ gefunden zu haben, und versteht die Baiern als Lastenträger von Waren aus Italien über die Alpen durch Bayern nach Germanien, wobei das anfängliche inlautende -l- dann verloren gegangen sei. Den Anlass zu dieser Etymologie bietet Rettner die Vita Severini, 29, 18ff., wo es heißt2:
… conductis plurimis comitibus, qui collo suo vestes captivis et pauperibus profuturas, quas Noricorum religiosa collatio profligaverat, baiularent.
Er hatte viele Kameraden geworben, die auf ihrem Nacken Kleidungsstücke schleppten, welche für Gefangene und Arme bestimmt und durch fromme Sammlung der Noriker aufgebracht worden waren.
Eine wohl als Nachdruck verleihende hinzugefügte jüngere bildliche Wiedergabe dieser Legende mit warenschleppenden Baiuli ‚Lastenträgern‘ findet sich auf dem Predellenbild des Polyptichons aus der Kirche SS. Severino e Sossio in Neapel von 1470 des Meisters von San Severino, das jetzt im Schloss Berchtesgaden aufbewahrt wird.
Zu seiner romanischen Etymologie befragte Rettner eine Anzahl germanistischer Sprachwissenschaftler, die jedoch eine solche lautgesetzlich nicht mögliche Bildung mit Recht ablehnte.3 So müsste im 5./6. Jh. eine romanische Entlehnung im Nominativ Plural germ. *Baiolowarjā und lat. *Baiolovarii bzw. mit Assimilierung *Baioloarjā bzw. *Baioloarii lauten, denn ein inlautendes -l- schwindet einfach nicht. Dagegen hält der Altphilologe und verdiente bayerische Namenforscher Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein in seiner Behandlung von diesbezüglichen Volksetymologien „Neue Etymologien des Baiern-Namens“ von 2005/06 eine romanische Herkunft des Baiernnamens für wahrscheinlich und bietet, angeregt durch Rettners Etymologie, eine daran anknüpfende eigene Version.4 Dabei geht er von der lateinischen Lesart Baibari bei Jordanes aus, die er unter den überlieferten Varianten für die ursprüngliche gotische Form des Namens hält, und sieht im Erstglied dieses Kompositums lat. baium ‚Last‘5 und im Zweitglied germ. bar von bëran ‚tragen‘ wie z.B. in ahd. eimbar ‚Eimer‘ als Lehnwort aus lat. amphora, das seinerseits aus gr. ἀμφορέος entlehnt ist und lat. ferō / gr. φέρω ‚tragen‘ enthält. Die ‚Lastträger‘ bedeutende Volksbezeichnung, die nichts mit den Boiern und Boi(o)haemum zu tun habe, sei als rom./germ. Mischbildung im Kauderwelsch des römischen Heeres mit Angehörigen aus vielen Sprachen entstanden und könnte anfänglich eine Spottbezeichnung gewesen sein. Bei romanischer Weiterentwicklung zu Baivari sei das Zweitglied dann wegen lautlicher Ähnlichkeit mit germ. *warja ‚Bewohner‘ zusammengefallen und so der überlieferte Baiernname entstanden. Auch diese Herleitung, die den Anschauungen der Archäologen folgt und den Zusammenhang des Baiernnamens mit den Boii und Boi(o)haemum beseitigen möchte, ist wie die anderen von Reitzenstein behandelten neuen Etymologien des Baiernnamens eine volksetymologische Konstruktion, die Bestandteile aus verschiedenen Sprachen miteinander verbindet und von deren Teilen wieder einen durch ein anderes Wort ersetzt, angebliche Vorgänge, die nicht nur im Ablauf unrealistisch erscheinen, sondern wofür es auch in der Lehnwortforschung keine Entsprechungen gibt. Außerdem widerspricht diese Konstruktion lautgesetzlichen Entwicklungen. Ein gotisches *Baiwarjos und ein spätwestgerm. *Baiwarjā des 5./6. Jhs. würde in der 2. Hälfte des 8. Jhs. zu bair.-ahd. *Bēore mit Monophthongierung von ai vor w zu ē führen. Reitzenstein hält an seiner nicht möglichen Etymologie weiterhin fest und wiederholt sie 2014 und 2017.6
Doch zurück zu Rettner, der in seinem Beitrag zum Sammelband von 2012 dann zwar einräumt, dass ab dem späten 5. Jh. mit verstärkter germanischer Zuwanderung in die Gebiete südlich der Donau zu rechnen ist,7 aber weiterhin an der Romanenthese festhält. Im Anhang korrigiert bzw. ergänzt Rettner auf Grund von Hinweisen und mehrfacher Kritik seine bisherigen Listen von Ortsnamen romanischer Herkunft und von romanisch-deutschen Mischnamen.
Auf dem von Rettner vorgezeichneten Weg schließen sich weitere Studien von Archäologen an. So beschäftigt sich 2012 der Münchener Archäologe Jürgen Haberstroh mit der Frage „Der Fall Friedenhain ‒ Přešt’ovice – ein Beitrag zur Ethnogenese der Baiovaren?“ Gerade diese an beiden Orten gefundene und übereinstimmende Feinkeramik schien ja die These einer Einwanderung zumindest eines Teiles der Baiern zu bestätigen. Sie wird aber nicht nur dadurch in Frage gestellt, dass diese Feinkeramik nur an wenigen südböhmischen Fundplätzen vorkommt, was die Einwanderung größerer Volksgruppen fraglich macht, sondern sie tritt in Variation sowohl im Barbaricum des 3.–6. Jhs. als auch überhaupt in ganz Süddeutschland auf und ist nicht an germanischen, sondern an römischen Mustern orientiert. Es lässt sich daher keinerlei Herkunftsthese an diese Feinkeramik knüpfen. Allerdings räumt Haberstroh ein, dass die Variationen sowohl im barbarischen als auch im römischen Gebiet auf Werkstattunterschiede zurückgehen. Dabei gelte es, einerseits die Spezifik der Keramik des Typus Přešt’ovice ‒ Friedenhain herauszuarbeiten und andererseits die Werkstattunterschiede im römischen wie im germanischen Gebiet festzustellen und gegeneinander abzugrenzen. Aber diesen langwierigen Untersuchungen scheinen sich die Archäologen gar nicht unterziehen zu müssen, denn die Einwanderungsthese der Baiern wird noch mit weiteren Argumenten abgelehnt.
Radikaler und polemischer verfährt der in Freiburg im Breisgau lehrende Archäologe Hubert Fehr. Er trug seine Kritik in dem ausführlichen Beitrag „Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarischen Identität als archäologisches und interdisziplinäres Problem“ auf der 2006 in Wien veranstalteten Internationalen Konferenz „Archäologie der Identität“ vor, deren Ergebnisse 2010 veröffentlicht wurden. Dabei löst der Terminus Identität bisheriges Ethnogenese und älteres Stammesbildung ab. Fehr sieht als Ausgangspunkt und Basis der bisherigen archäologischen Suche nach der Herkunft der Baiern die kaum jemals hinterfragte Annahme der Sprachwissenschaft, dass der Baiernname „Männer aus Böhmen“ bedeute und die Baiern daher aus Böhmen eingewandert seien. Das aber stellt Fehr von seinem positivistischen