Pragmatische Bedingungen der Topikalität. Detmer Wulf
Redebestandteile bestimmen? V. d. Gabelentz nimmt hierfür eine adressatenorientierte Perspektive ein. Ziel einer Äußerung ist es nämlich, das eigene Vorstellungsbild in gleicher Form beim Hörer zu erzeugen. Diesen Vorgang vergleicht v.d. Gabelentz mit dem Beschreiben eines Papierstreifens in einem Telegraphenapparat, wobei die beschriebene Rolle „immer stärker anschwillt“ und der Papierstreifen „der noch vollgeschrieben werden soll […], zur anderen Rolle hinübergleitet“ (v.d. Gabelentz 1891, 369). Der Sprecher kennt den gesamten Vorstellungsinhalt, in der vom Autor gewählten Metapher also den beschriebenen sowie den unbeschrieben Teil des Papierstreifens; der Hörer muss die Vorstellung im Verlauf der Äußerung erst noch vervollständigen. Einen solchen Akkumulationsprozess stellt sich v.d. Gabelentz als durchaus sprechergelenkt vor. Der Sprecher „leitet […] mit dem ersten Worte des Anderen Denken auf eine gewisse Vorstellung und dann weiter und immer weiter, immer neue Erwartungen jetzt weckend, jetzt, gleich darauf, befriedigend“ (ebd., 369).
V. d. Gabelentz’ Pointe ist es nun, den Zusammenhang zwischen schon Gehörtem und Erwartetem im Verlauf der Äußerung in Analogie zu den grammatischen Kategorien Subjekt und Prädikat zu bestimmen: Ich nenne zuerst dasjenige, „was mein Denken anregt, mein psychologisches Subject, und dann das, was ich darüber denke, mein psychologisches Prädicat“ (ebd., 369f.). Das, worüber man etwas mitteilt und das, was man darüber mitteilt, also psychologisches Subjekt bzw. Prädikat, kann den jeweiligen grammatischen Kategorien entsprechen, es kann aber auch ganz anderen grammatischen Einheiten zugeordnet sein, wie v.d. Gabelentz anhand zahlreicher Beispiele demonstriert (vgl. 370f.). So lässt sich etwa in einem Satz wie
(1) | Gestern war mein Geburtstag. |
die adverbiale Bestimmung gestern unter bestimmten Bedingungen als psychologisches Subjekt auffassen, nämlich dann, wenn „ich von einem gewissen Tage [rede] und […] von ihm aus[sage], dass er mein Geburtstag war“ (ebd., 370). Und in einem Sprichwort wie
(2) | Mit Speck fängt man Mäuse. |
übernimmt die satzinitiale Adverbialbestimmung (mit Speck) die Rolle des psychologischen Subjekts, denn, so v.d. Gabelentz, nicht vom grammatischen Subjekt man sei hier die Rede, sondern das Mittel (der Speck) bilde den Gegenstand der Äußerung, von dem dann ausgesagt werde, was man damit macht, nämlich Mäuse zu fangen (vgl. ebd., 370).
Im Rahmen seiner Ausführungen zur Funktion der Intonation beschreibt v.d. Gabelentz des Weiteren Phänomene, die in heutiger Terminologie als Fokus- oder Kontrastakzent bezeichnet werden:
Was wir für’s Ohr betonen, für’s Auge unterstreichen oder typographisch auszeichnen lassen, ist also dasjenige, worauf es uns besonders ankommt, was uns das wichtigste ist. Wichtig ist es uns in Rücksicht auf einen vorhandenen oder vorgesetzten Gegensatz. (373)
Hier kommt v.d. Gabelentz einer adressatenorientierten Perspektive recht nahe; einen systematischen Zusammenhang zu seinem Verständnis der psychologischen Subjekts- bzw. Prädikatsebene stellt er jedoch nicht her. Explizit weist er diese Kategorienebene der Wortstellung zu:
Nicht die Betonung, sondern die psychologischen Subjects- und Prädicatsverhältnisse entscheiden über die bevorzugte Stellung der Satzglieder, und das seelische Verhalten, das sich in der Betonung äussert, hat mit jenem Verhältnisse nichts zu thun. (376)
Das, worüber gesprochen werden soll, ist im Verlauf der Äußerung des Satzes zuerst zu nennen. Was darüber ausgesagt wird, muss dann daran angeschlossen werden.3 Mit seiner Metapher vom Telegraphenapparat will v.d. Gabelentz verdeutlichen, dass diese Reihenfolge zwingend aus den Bedingungen der Kommunikationssituation hervorgeht, wobei er diese nicht dialogorientiert, also im Hinblick auf wechselseitige Äußerungsabfolgen zwischen zwei Gesprächsteilnehmern betrachtet, sondern unter dem Aspekt der Mitteilung von Information an einen Adressaten. Die Satzgliedstellung hat für ihn somit eine informationsstrukturierende Funktion: Sie zeigt an, welche Elemente als das ‚Worüber‘ des Satzes zu verstehen sind, unabhängig von ihren oberflächengrammatischen Relationen.
In heutige Terminologie lässt sich v.d. Gabelentz’ psychologisches Subjekt und Prädikat wohl am besten mit den Begriffen Satzgegenstand und Satzaussage übersetzen. Seine Perspektive ist zwar adressatenorientiert, sie bleibt hierbei aber wesentlich der Linearität der Äußerungsabfolge in ihrer sprachlichen Realisierung und deren Perzeption durch den Hörer verhaftet. Hieraus erklärt sich wohl seine Auffassung, dass das psychologische Subjekt dem psychologischen Prädikat immer vorauszugehen habe.
Hermann Paul (1880), der ebenfalls die Begriffe psychologisches Subjekt bzw. Prädikat verwendet,4 folgt ihm in diesem Punkt nicht, und dies hat seinen Grund vor allem darin, dass er hinsichtlich der Informationsstrukturierung von Äußerungen weitere Aspekte mit in den Blick nimmt. Seine Definition ist dabei zunächst ähnlich wie die von Georg v.d. Gabelentz von wahrnehmungspsychologischen Begriffen geleitet:
Das psychologische Subjekt ist die zuerst in dem Bewusstsein des Sprechenden, Denkenden vorhandene Vorstellungsmasse, an die sich eine zweite, das psychologische Prädikat anschliesst. Das Subjekt ist […] das Apperzipierende, das Prädikat das Apperzipierte. (Paul 1880, 124f.)
Grammatisches Subjekt und Prädikat sind aus diesen psychologischen Kategorien abgeleitet zu denken, sie „beruhen auf einem psychologischen Verhältnis“ (ebd., 124). Zwar bestimmt auch Paul den Satz als Ausdruck der „Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden“ (ebd., 121) und wie bei v.d. Gabelentz ist auch für ihn der Satz „das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in der Seele des Hörenden zu erzeugen“ (ebd.), jedoch müssen diese nicht in jeder Redesituation vollständig ausgedrückt werden. Paul erläutert dies im Rahmen seiner Diskussion der Subjekt-Prädikat-Abfolge. Kritisch wendet er sich gegen v.d. Gabelentz’ Annahme, dass das psychologische Subjekt ausnahmslos die erste Position einnehme. Zwar gesteht er zu, dass dies in vielen Fällen zutreffe, insbesondere „bei ruhiger Erzählung oder Erörterung“ (ebd., 127), die umgekehrte Reihenfolge sei jedoch eine „nicht wegzuleugnende und nicht gar seltene Anomalie“ (ebd.). Das psychologische Subjekt
[…] ist zwar immer früher im Bewusstsein des Sprechenden, aber indem er zu sprechen anfängt, kann sich der bedeutsamere Prädikatsbegriff schon so in den Vordergrund drängen, dass er zuerst ausgesprochen und das Subjekt erst nachträglich angefügt wird. (ebd., 127)
Dies ist etwa der Fall, „wenn der Subjektsbegriff schon vorher im Gespräche da gewesen ist“ (ebd.). Als Beispiel hierfür nennt Paul den folgenden Dialog (siehe ebd.):
(3) | Müller scheint ein verständiger Mann zu sein. – Ein Esel ist er. |
In einem Frage-Antwort-Dialog wie: Was ist mit Maier? – Kaufmann (ist er). (vgl. ebd., 127) hat der Angeredete „in der Regel, während er das Prädikat hört, schon das dazu gehörige Subj. im Sinne, welches daher auch manchmal eben so gut wegbleiben kann“ (ebd.). Derartige Beispiele weisen für Paul eine Verwandtschaft mit Sätzen auf, „in denen überhaupt nur das Präd. ausgedrückt wird“ (ebd.). Dies ist nach Paul etwa dann der Fall, wenn die Antwort nur aus einem psychologischen Prädikat besteht, da sein Gegenstück, das psychologische Subjekt, in der vorangegangenen Frage enthalten ist oder der gesamte Fragesatz als psychologisches Subjekt gelten kann (vgl. ebd., 129):
(4) | Wer hat dich geschlagen? – Max. |
(5) | Bist du das gewesen? – Ja. |
Diese „dem sprachlichen Ausdruck nach eingliedrigen Sätze“ (ebd.) sind also darum kommunikativ adäquat, weil die Zweigliedrigkeit der psychologischen Ebene im Kontext des Frage-Antwort-Dialogs verankert ist. Entsprechend können dann auch eingliedrige Sätze wie Feuer! oder Hilfe! auf der psychologischen Ebene als zweigliedrig analysiert werden, weil dort die Äußerungssituation das psychologische Subjekt bildet. Aus diesem