Deutsch in Luxemburg. Fabienne Scheer

Deutsch in Luxemburg - Fabienne Scheer


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genauerer Betrachtung allerdings die verschiedensten Sprachbiographien und -repertoires aufweisen. Beim Erwerb neuer Sprachen greifen Luxemburgs Schüler dementsprechend auf unterschiedliche Voraussetzungen zurück. Im öffentlichen Diskurs wird die Mehrsprachigkeit des Landes gewöhnlich mit der gesetzlich verankerten Dreisprachigkeit des Landes (Deutsch – Französisch – Luxemburgisch) gleichgesetzt.4 Auf dem Arbeitsmarkt scheint dagegen längst ein Sprachhandlungswissen gefordert zu werden, das über die Kompetenzen, die im traditionellen luxemburgischen Sprachenunterricht erworben werden, hinausgeht. So werden ‚Migrantensprachen’ (vor allem Portugiesisch und Serbokroatisch) im Dienstleistungssektor mittlerweile als entscheidendes Einstellungskriterium gewertet. Der Bildungsminister betont im obigen Interviewausschnitt, dass er die Schulgemeinschaft zusammenhalten möchte, obschon sie aufgrund ihrer Heterogenität kaum noch mit einheitlichen Methoden unterrichtet werden kann. Er stuft die Anpassung des Bildungssystems an die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse als „die große Herausforderung für Luxemburg“ ein. Eine „multilinguale Gesellschaft, die immer multilingualer werde“ erfordere einen anderen Sprachenunterricht als bisher.

      Es sind die TOPOI DER UNGERECHTIGKEIT und der REALITÄTSANPASSUNG, die seit Beginn der portugiesischen Immigration den Bildungsdiskurs dominieren. Der TOPOS DER UNGERECHTIGKEIT verläuft nach folgendem Argumentationsmuster:

      Weil das aktuelle Bildungssystem Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt, ist es ungerecht.

      Der TOPOS DER REALITÄTSANPASSUNG folgt in der Diskursargumentation gewöhnlich dem TOPOS DER UNGERECHTIGKEIT und verläuft nach folgendem Schema:

      Weil das aktuelle Bildungssystem nicht mehr zu der Gesellschaft passt, die es ausbilden muss, bedarf es dringend einer Anpassung.

      Im Medienkorpus finden sich unzählige Beispiele für die Ausführung beider Argumentationsmuster:

      BEISPIELE FÜR DIE ANWENDUNG DES UNGERECHTIGKEITSTOPOS IM BILDUNGSDISKURS

      Weshalb kann in Luxemburg Friseur werden, wer seine Ausbildung auf Französisch macht, während ein Mechaniker unbedingt Deutsch beherrschen muss? Diese Situation findet Anne Brasseur absurd und ungerecht (Journal: 16.01.2001).

      Deren diesjähriges Motto lautet: „Gerechtegkeet an Efficacitéit an eiser Schoul“. Dahinter verbirgt sich ein ganzes Bündel von bereits begonnenen und neuen Maßnahmen, die laut Ministerium vor allem eines zum Ziel haben: bestehende Ungleichheiten und Ungleichheiten des Luxemburger Schulsystems allmählich zu korrigieren und allen Schülerinnen und Schülern eine Qualifikation „entsprechend ihrer Fähigkeiten” zu ermöglichen (LL: 15.09.2005).

      So müsse man beispielsweise den demografischen Veränderungen Rechnung tragen. Immerhin sind mehr als 42 Prozent der Grundschüler nicht luxemburgischer Herkunft. „Es geht vor allem um Chancengerechtigkeit“, betonte Scheuer. Die Kinder sollen gemäß ihren Fähigkeiten gefördert werden (Wort3: 21.01.2009).

      BEISPIELE FÜR DIE ANWENDUNG DES REALITÄTSANPASSUNGSTOPOS IM BILDUNGSDISKURS

      Die Zeit für eine harmonische Integration und somit für eine Anpassung im Schulsystem drängt […] (LW4: 10.04.1989).

      So stellt sich die Frage, ob nicht ein zweigleisiges Schulsystem mit einer frankophonen und einer germanophonen Ausrichtung der Realität eher angepasst wäre und die heranwachsende Generation besser auf die Zukunft vorbereitet würde? (LL7: 07.11.1986)

      Langues: l’école doit être la même pour tous (LJ19: 17.07.1997).

      Die zunehmend komplexe Situation der Sprachen, bedingt durch eine immer vielfältiger werdende Immigration, macht eine Neuanpassung des Sprachenunterrichts zur Dringlichkeit (LW2–3: 16.03.2007).

      Wir haben in Luxemburg immer mehr französischsprachige Schüler. Die Berufsausbildung hat es immer noch nicht geschafft, diesen Wandel strukturell zu begleiten. […] Wir haben zwar französischsprachige Ausbildungen, aber es sind nicht genug. Zudem scheint die Zahl der Immigrantenkinder, die im Laufe des Jahres nach Luxemburg kommen, wieder zu wachsen. Darunter befinden sich viele Schüler, die das Potenzial für eine höhere Qualifizierung hätten – wenn unsere hohen Sprachanforderungen nicht wären. Fast alle unsere höher qualifizierenden Berufsausbildungen setzen Deutschkenntnisse voraus. Das geht völlig an unserer Realität vorbei (LL: 23.09.2010).

      Kinder in Luxemburg sollen im Précoce Luxemburgisch, dann das Alphabet in Deutsch lernen und ein Jahr später mit einem Französischunterricht beginnen, der auf ein Niveau irgendwo zwischen Erst- und Zweitsprache abzielt. An dieser Dreifaltigkeit wird nicht gerüttelt. Obwohl die Realität andere Anforderungen stellt. Immer mehr Kinder sprechen daheim nicht Luxemburgisch als Erstsprache, sondern Portugiesisch oder Französisch oder Serbokroatisch (LL1: 02.09.2011).

      Bereits im Jahr 1983 war im Mediendiskurs die Ansicht verbreitet, dass das Sprachenpensum, das in Luxemburg traditionell zu bewältigen ist, für Zuwandererkinder nicht zu schaffen sei:

       Das sprachlose Kind

      Weit über ein Drittel der Kinder, welche die Luxemburger Primärschulen besuchen, sind Ausländer. Sie verursachen das bedeutendste, wichtigste und schwierigste Schulproblem, das es in unserem Land in den nächsten Jahren zu lösen gilt. […] Es muss dringendst eine Lösung gefunden werden. Dazu kommt, dass Luxemburg es sich in seiner speziellen Dreisprachensituation nicht leisten kann, irgendwelche ausländischen Rezepte nachzubeten oder gar Europarat- oder Unescoentschlüsse unüberdacht und ungeändert hierzulande anzuwenden. Dies ist umso wahrer, als das Problem in Luxemburg regional, ja von Ortschaft zu Ortschaft verschieden ist. […] Aber der Sohn und die Tochter der Gastarbeiterfamilie sind mehr, weitaus mehr als bloße statistische Angaben, weitaus mehr als Störenfriede, der sonst angeblich heilen Welt der Schule. […] von den für Ausländerkinder schier unüberwindbaren Schranken des Prüfungs-, Examens- und Schulfaches „Deutsch“ einmal abgesehen […] Der kleine Ausländer sieht sich, bewusst oder unbewusst, als ein Störfaktor in einer Schule, in welcher er und seinesgleichen normalerweise in der Minderheit sind. Diese Schule benutzt Lehr- und Anschauungsmittel, die seiner Kultur fremd sind, und gebraucht als Grundlage alles Lernens und Wissens eine Sprache, die er nicht kennt, die von der seinigen in allen Zügen ihres linguistischen Wesens abweicht, und die ihm jedoch nicht als eine zu erlernende Fremdsprache angeboten wird, sondern die als bekannt oder doch ungefähr bekannt vorausgesetzt wird (LL6–7: 22.07.1983).

      Über 30 Jahre später hat sich an diesem Befund wenig geändert. Der Migrantenanteil im Land liegt bei 45,3 % und die Schulpopulation weist mit 43,8 % einen Zuwandereranteil auf, der etwa genauso hoch ist (MENEJ/Université du Luxembourg 2015: 17). Das Argument, dass die Art und Weise wie Deutsch in Luxemburg unterrichtet werde, tausende Migrantenkinder in ihrer Ausbildung hemme, wiederholt sich:

      Den in Luxemburg zur Schule gehenden Ausländerkindern werden zum Teil unüberwindliche Steine, in Form des Sprachunterrichts, in den Weg gelegt (LL7: 07.11.1986, eigene Hervorh.).

      Le texte souligne aussi le handicap des enfants qui prennent le départ avec une autre langue maternelle que le luxembourgeois propre à faciliter l’apprentissage de l’allemand. […] Pour contourner l’obstacle linguistique (essentiellement l’allemand), certains décrochent certificats et diplômes dans la région frontalière ou dans les écoles privées au Luxembourg (LJ12: 24.04.1997, eigene Hervorh.).

      L’allemand constitue une barrière infranchissable pour de nombreux jeunes portugais“, s’exclame Carlos Peixoto avec vigueur (LJ16 : 21.05.1998, eigene Hervorh.).

      In der Diskursgemeinschaft besteht Konsens darüber, dass die Didaktik des Sprachenunterrichts und der Stellenwert der Bildungssprache Deutsch für die portugiesischen Migrantenkinder nahezu unüberbrückbare Hürden darstellen. Doch auf der anderen Seite ist der Stellenwert dieser Schulsprachen eng verknüpft mit der Identität des Landes:

      66 Punkte umfasst der ‚Plan d’action langues’ des Unterrichtsministeriums. Sein Ziel ist die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, die in Luxemburg wohl wichtiger, aber auch deutlich komplizierter ist als in anderen Ländern. […] „Eine Reform wird wegen des besonderen Status von Deutsch und Französisch


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