Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González
zu verstehen, ohne ihn mit all den Personen seiner SageSage zu kontextualisieren. Alle diese Figuren sollen deshalb analysiert werden, um ein möglichst vollständiges Bild des Mythos von Athamas skizzieren zu können. Infolgedessen sollen alle diese Gestalten lediglich als Hauptbestandteile der mythischen Erzählung verstanden werden, deren Analyse nur in Verbindung mit der Hauptfigur Athamas bzw. mit den wichtigsten Themen dieses Mythos, in denen sie eine hervorragende Rolle spielen, durchgeführt wird.
Im Hinblick auf Phrixos gibt es vier Schlüsselmotive, und keines hat mit dem ‚Wort‘ Athamas zu tun: das Thema der StiefmutterStiefmutter, den OpferOpferaltar, den rettenden Widder und das aufnehmende Land von KolchisKolchis. Das erste dieser Motive, das der Stiefmutter, bildet den Grund des zweiten, nämlich das der Opferung auf dem Opferaltar. Im ersten Fall werden die m.E. zwei Arten von ‚Stiefmüttern‘ im Mythos von Athamas untersucht; hier werden auch die Ursache und die Weise der IntrigeIntrige gegen Phrixos (und manchmal auch gegen Helle) analysiert. Im zweiten Fall ist von der Opferung im Allgemeinen und von den Menschenopfern in HellasHellas die Rede. Das dritte Thema, der Widder, stellt ein grundlegendes Element dieser Tradition dar, weswegen es im nächsten Absatz der I-P-H-Version ausführlicher erforscht wird. Das vierte Thema wird in der dritten Abteilung dieses Absatzes von Phrixos untersucht.
Im Grunde genommen werden an dieser Stelle die Themen der Stiefmutter, der MenschenopferMenschenopfer und der AbenteuerAbenteuer von Phrixos in KolchisKolchis analysiert.
I.2 Das Thema des StiefmutterStiefmutters
Das Argument der grausamen Stiefmutter ist sehr alt und findet sich in allen Literaturen der Welt. Sprichwörtlich ist die praktische Lieblosigkeit zwischen Stiefmüttern und Stiefkindern. Einige Beispiele können dafür Zeugnis ablegen1: Hdt. IV 154HerodotHdt. IV 154; Is. Pro EuphIsaiosPro Euph. V. V; Apul. MetApuleiusMet. X 5. X 5. In Tac. Ann. XII 2TacitusAnn. XII 2 spricht man von nouercalia odia, einem derMythographi VaticaniM.V. I 23 M.V. I 23 sehr ähnlichen Ausdruck: nouercali odio. Dieser HassHass wird stark konkretisiert in Sen. Contr. IV 6SenecaContr. IV 6 : nouercalibus oculis aliquem intueri.
Das deutlichste Beispiel in den Texten über Athamas’ Mythos ist das Frg. 36 KannichtEuripidesPhrixos A-B:Frg. 36 Kannicht, das auf einen der zwei Phrixos von Euripides zurückgeführt wird; InoIno hätte es aussprechen sollen. Das Frg. 4 Kannicht, von AigeusEuripidesAigeus:Frg. 4 Kannicht, ist diesbezüglich auch sehr bedeutsam. McHardy meint, Medea wäre in diesem Werk „the hostile stepmother attempting to persuade her husband Aegeus to murder his unrecognized son, Theseus“2.
Fontenrose stellt fest: „The second wife and the other woman have been favorite themes of story“3. Diese zweite Frau hat immer einen negativen Charakter, denn sie wird ipso facto zur Stiefmutter der Kinder der früheren Ehefrau, und Stiefmütter haben keinen guten Ruf4. Als Muster gilt nicht nur die Legende von Athamas, sondern auch jene von Aëdon-Prokne, in der Tereus als Ehebrecher – genauso wie Athamas in Bezug auf NepheleNephele bei Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37) – oder als ein Mann, der zweimal heiratet, vorkommt.
Der Ruf der Stiefmütter ist so negativ, dass Alkestis sich freiwilligfreiwillig statt ihres Mannes dem Tod hingibt, wenn nur Admetos – immer in Euripides’ Version – keine zweite Ehe eingeht; eigentlich sorgt sie sich um ihre Kinder: „È per essi (più che per gelosia), infatti, che chiede ad Admeto di non introdurre in casa una matrigna; e per la loro sorte futura che essa trema“5.
McHardy, der sich auf eine Untersuchung von Visser stützt, meint, die Entscheidung der Stiefmutter, ihre StiefkinderStiefkinder zu töten, „is based on their preference for their natal kin (father and siblings) over their husband and sons“6. Deswegen ist es nicht notwendig, dass die Stiefmutter ihre Stiefkinder in einem Anfall von Irrsinn, wie es üblich ist, wenn es um den Angriff einer Mutter gegen ihre eigenen Kinder geht, umbringt: Es ist absolut ‚normal‘, dass die Kinder einer früheren Ehefrau der Stiefmutter ungeheuren Ärger verursachen. In dieser Linie ermahnt Platon die Männer, dass sie keine Stiefmutter nach Hause ‚bringen‘7. Moderne Studien, wie die von Daly & Wilson McHardy zeigen, „children are at greater risk from stepparents than from natural parents“8.
Zahlreich sind die Adjektive für die Kennzeichnung der Stiefmutter, vor allem in der lateinischen Literatur, und keines ist gut: saeua (Verg. G. II 128VergilG. II 128); scelerata (Ou. Fast. III 853OvidFast. III 853); terribiles (Ou. MetOvidMet. I 147. I 147). Auffällig ist der Ausdruck von Quintilian (Inst. II 10, 5QuintilianusInst. II 10, 5), als er die Klischees aufzählt, die man nie in einem Gerichtsverfahren finden wird: Nam magos et pestilentiam et responsa et saeuiores tragicis nouercas aliaque magis adhuc fabulosa frustra inter sponsiones et interdicta quaeremus; er meint offensichtlich die berühmten auf der Bühne dargestellten Stiefmütter9. Merkwürdig ist der Ausdruck in Plaut. Ps.PlautusPs. 314 314, (argentum) apud nouercam querere, in dem er sagen will, dass derjenige, der eine StiefmutterStiefmutter um Geld bittet, umsonst bittet. Dieses Thema war so bekannt, dass ihm selbst Antiphon eine Ausführung widmete: In nouercam.
Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind immer und überall zumindest schwierig10 und der Konflikt innerhalb der Familie ist oft zu einem literarischen Motiv geworden11. Wo liegt der Ursprung dieses Konfliks?
Die die Familie zusammenhaltende Verbindung sind meiner Meinung nach die Ehe und die Geburt. Im Prinzip sollte die Liebe die Beziehungen kennzeichnen und ein wesentliches Element der Gründung und des Bestandes der Familie sein; leider ist es nicht immer so. Diese Verbindungen, nämlich Ehe und Geburt eines Kindes, können auch ohne Liebe bestehen. Im ersten Fall mildert die Auswahl des Ehepartners die zukünftigen Probleme der Beziehung; wenn die Wahl aber unfrei gewesen ist, ähnelt die Ehe sehr der Beziehung einer Stiefmutter zu ihren Stiefkindern, denn beide sind erzwungene Beziehungen. Im zweiten Fall, der Geburt eines Kindes, ist es das Blut, das die Beziehung zwischen Eltern und Kindern begründet, ein Element, das von Natur aus über der Wahl selbst steht12. Das Problem erscheint, wenn eine nicht auf Blut basierende Beziehung die Familie kennzeichnet: Der Konflikt ist da. Dies geschieht mit der Stiefmutter.
Das Wort ‚StiefmutterStiefmutter‘ (μητρυιά, ᾶς, auf Griechisch) hat sowohl im Griechischen als auch im Deutschen und im im Spanischen13 einen großen Begriffsreichtum. In Hes. Op. 825–826 ist es ein Synonym für Unglück in einem zeitlichen Rahmen, was auf Deutsch ‚ein schlechter Tag‘ heißt: ἄλλοτε μητρυιὴ πέλει ἡμέρη, ἄλλοτε μήτηρ14. In A. Pr. 727 wird dieses Übel räumlich zusammengefasst: ἐχθρόξενος ναύτῃσι, μητρυιὰ νεῶν. In Pl. MxPlatonMx. 237b. 237b ist mit μητρυιά gemeint, was nicht unverfälscht ist. Im Lateinischen hat auch das Wort nouerca, dessen Etymologie die früheren Überlegungen deutlich macht15, ein unfassendes Kompendium von Einzelheiten, die das Unglück und das Böse bedeuten. In der Linie von Plutarch wird in Quint. Inst. XII 1, 2QuintilianusInst. XII 1, 2 folgendes behauptet: rerum ipsa natura in eo … non parens sed nouerca fuerit, si … Vell.Pat. II 4, 4Velleius PaterculusVell.Pat. II 4, 4 bezieht sich auf das Vaterland, da die schreiende Versammlung in Italien nicht heimisch ist16; in Petron. 122PetroniusPetron. 122 aber ist RomRom der Hinweis, der darauf hindeutet, dass die ewige Stadt mit dieser Schandtat nichts zu tun hat.
Letztlich ist auch das Wort nouercae, arum interessant, dessen erste Bedeutung auf die Bewässerungsgräben hinweist, die das Wasser schlecht und langsam tragen17, dessen zweite Bedeutung aber, nach Lewis-Short (1993), s.u. nouerca, „a rough piece of land (so called in allusion to the iniquitas nouercae)“18 ist.
Im Mythos von Athamas ist das Thema der Stiefmutter grundlegend für die I-P-H-Version, obwohl seine Gegenwart in den ältesten Elementen dieser Legende von verschiedenen Autoren in Frage gestellt worden ist. Friedländer z.B. glaubt, dass zunächst eine Sterbliche auftaucht – möglicherweise ohne Identifikation –, die sich in die Ehe von Athamas und NepheleNephele einmischt und diese in Gefahr bringt; aus dieser Sterblichen „(wird) erst nachträglich die MärchenMärchenfigur der bösen Stiefmutter erwachsen sein“19. Krappe ist derselben Meinung, wenn er annimmt, „le