Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González
Kinder zu töten, in dieser Tradition viel besser als in der üblichen Version, wo deren Erwähnung etwas künstlich erscheint. In der vorliegenden Tradition aber nützt die StiefmutterStiefmutter sehr schlau die Gelegenheit der Dürre aus und bedient sich des Orakels, um sich von den Kindern der früheren Frau zu befreien.
An dritter Stelle hat das Orakel von Delphi eine logischere Rolle, denn es gilt als ein bedeutsamer kultischer Ort für die wichtigsten die Gemeinschaft betreffenden Fragestellungen. Schlesier aber macht auch auf die doppelte Wertigkeit dieses Orakels aufmerksam: „Wer von ihm Klarheit wünscht, erhält Zeichen, rätselhafte Zweideutigkeiten, bei deren Deutung er keine Unterstützung findet“11.
An vierter Stelle geschieht Athamas’ OpferOpferung zu Ehren von ZeusZeus, dem Gott par excellence des Blitzes und Donners, auch des Sturmes und des Regens, eine ganz andere als jene von Phrixos und Helle. Wenn der Opfertod der Kinder von Nephele als Versöhnungsopferung vollzogen wird, so ist die Opferung von Athamas sowohl in den Scholien zu Die Wolken von Aristophanes als auch bei Eudokia und bei Apostolios deutlich als eine Bestrafung zu lesen, in der erwähnten Textstelle von Herodot als eine Reinigung. Die Texte sind deutlich: der Sinn der Opferung hat sich völlig geändert. Die Opferung der Kinder des Königs hat nicht ‚funktioniert‘ und der König selbst muss folglich, wie in Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 19712Hellas zu lesen ist, bestraft werden, um den Ort zu reinigen; sonst käme über den Stamm ein Generationenfluch. Diese Einführung des Mythos in dem ländliches Gebiet13 wird von Bonnechère erwähnt, der ihm mit dem Ritual der Nymphe Hagno vergleicht, als die DürreDürre in Arkadien14 auftrat: Der Priester von Zeus Lykaion15 betet und bringt die geeignete Opferung dar; dann veranlasst er eine Vernebelung mit Wasserdampf, der nach und nach zu einer WolkeWolke wird; diese wächst mit anderen zusammen und schlieβlich fällt der Regen. Wenn also der rituelle Sinn des Opfers pro pluuia verlorengegangen ist, dann musste man die Intrige des verbrannten Samens in Anspruch nehmen, um Phrixos’ Opfer zu rechtfertigen.
An fünfter Stelle konnte das Thema der Stiefmutter aus dem Zusammenleben des Athamas, der in der I-L-M-Version als Inos Mann gilt, mit diesem anderen Athamas, der eng mit Nephele16 verbunden ist und dessen erste und echte Ehefrau ThemistoThemisto17 sein konnte, entstehen. Auf diese Weise fand man ein plausibles Motiv für den Tod von Nepheles Kindern, denn es wäre unlogisch, dass die eigene Mutter ein Übel herbeiruft, um ihren Kindern zu schaden. Darum ist es unmöglich, die drei Versionen in einer einzigen Erzählung zusammenzufassen, auch wenn Nonnos es in seiner Dionysiaka versuchte: Diese Geschichten sind an verschiedenen Orten Griechenlands und aus verschiedenen Gründen geboren. In der Tat konnte das Thema der Stiefmutter ursprünglich mit Themisto in Bezug auf Inos Kinder in Zusammenhang stehen; auf diesem Muster konnte Inos HassHass gegen Nepheles Kinder erwachsen.
Schlieβlich glaubt Bonnechère, dass das von Menschenhand verursachte Unglück, dessen ältester Beleg nicht früher als in die hellenistische Zeit18 zurückgeht und dessen Handlung keine Parallele in der griechischen bzw. lateinischen Literatur hat, „ne fit pas partie du noyau primitif de l’histoire et l’ἀκαρπία dont il est ici question pourrait n’avoir été, à l’origine, qu’un fléau semblable à tous ceux que compte le répertoire mythologique grec, rationalisé par la suite“19.
Nun ist die bei den Autoren verbreitetere Version zu analysieren, nämlich das VersöhnungsopferOpfer als List der Stiefmutter, um Nepheles Kinder umzubringen. Merkwürdigerweise gibt es in der archaischen Epoche keinen Beleg dieser Version, wohl aber hat man eine Andeutung zum ungewöhnlichen Thema von PotipharPotiphar. Der Protagonist ist der Widder und, obwohl bei Hesiod20, bei Hekataios21 und natürlich bei Pherekydes22 immer von Phrixos gesprochen wird, sind die letzten Phasen des Mythos in dieser Version die wichtigsten; einerseits die Tröstung des Phrixos durch den Widder nach Helles SturzSturz (Hekataios), andererseits Phrixos’ AbenteuerAbenteuer in KolchisKolchis (Hesiod und Pherekydes23). Nun muss man aber hier einen größeren Schritt machen. Die IntrigeIntrige der Stiefmutter und all ihre Wirkungen folgen weiter unten24.
I.2.2 Potiphars Thema
Am merkwürdigsten ist bei diesem Thema1 in Hinblick auf Athamas, dass der Hass der StiefmutterStiefmutter gegen Phrixos zum ersten Mal durch eine Verbitterung wegen ihrer verschmähten Liebe und nicht durch den NeidNeid erklärt wird.
Der erste Text, in dem das Wort μητρυιά mit diesem Mythos in Verbindung gebracht wird, ist Pi. P. IV 161–162PindarP. IV 161–1622. Die Deutung des Scholions (Schol. in Pi. P. IV 288a DrachmannScholia zu PindarSchol. in Pi. P. IV 288a Drachmann) zerstreut alle Zweifel: ἐκακώθη γὰρ διὰ τὴν μητρυιὰν ἐρασθεῖσαν αὐτοῦ καὶ ἐπεβουλεύθη. Fontenrose denkt, diese Version „was better known in the fifth century than later; for Pindar and Sophocles were acquainted with it“3. Prof. Lucas de Dios weist auf das häufigere Vorkommen dieses Motives in der griechischen und lateinischen Mythologie hin: Es wird wenigstens sechsmal verwendet4 hin; dieses Thema wurde sogar sehr häufig in der TragödieTragödie benutzt.
Vor der Analyse dieses Themas muss geklärt werden, was unter ‚Potiphars Motiv‘ zu verstehen ist. Der Name kommt aus dem Alten Testament5. In Gen 39, 1–206 ist die genaue Geschichte zu lesen. Hier wird eine kurze Zusammenfassung des Vorworts und der Episode präsentiert.
Joseph, der schön von Aussehen war, wurde von seinen eigenen Brüdern für zwanzig Silber-Schekel an Ismaeliter verkauft, denn der NeidNeid verzehrte sie: Er war der Lieblingssohn ihres Vaters und sie hatten seine Träume satt. Joseph kam in Ägypten an und die Midianiter verkauften ihn an PotipharPotiphar, einen Kämmerer des Pharao, den Obersten der Leibwächter (Gen 37, 36). Joseph nahm Potiphar für sich ein und gewann das Vertrauen seines Herrens: Der Kämmerer gab ihm alles, was er besaß, in seine Hand. Nun folgt die bekannte Episode mit Potiphars Frau. Diese versuchte Joseph im geheimen zu verführen, aber er wies sie ab; sie hatte jedoch sein Kleid in ihrer Hand – Joseph war voll Angst geflohen – und verleumdete Joseph bei ihrem Mann, der ihn in den Kerker werfen ließ. Am Ende7 wird Joseph mit Gottes Hilfe in Ägypten Erfolg haben und den Gipfel der Macht erreichen8. Worauf López Salvá treffend hinweist, ist das moralisierende Ziel der Erzählung und eignet sich als Beipiel der Besonnenheit und der Keuschheit von Jakobs Sohn9.
Mit einem Schema kann man die Merkmale dieses Themas in folgenden Punkten zusammenfassen10:
1) Ein junger Mann erregt die Leidenschaft der Ehefrau einer anderen männlichen Figur, die dem Jugendlichen sehr nahe steht.
2) Er weist das unsittliche Angebot zurück, die Frau verleumdet ihn bei ihrem Mann, der ihr glaubt.
3) Der Jugendliche wird bestraft11, doch am Ende siegt die Wahrheit, die Tugendhaftigkeit des jungen Mannes stellt sich heraus und die Schandtat der Frau12 wird bekannt.
Obwohl die Erzählung im Buch Genesis dem Motiv den Namen gegeben hat, kommt das Potifar-Motiv an anderen kulturellen Orten und sogar früher vor als die Abfassung der Josephs-Episode in der Genesis13. López Salvá macht eine wichtige Erklärung dazu: „Intentar establecer un stemma o buscar un arquetipo en este tipo de temas tan relacionados con los sentimientos humanos es poco menos que imposible, pues, al ser estos universales, es harto dificil determinar si ha habido influencias, relaciones o contaminaciones, o si han surgido independientemente unos de otros en las diferentes comunidades en las que aparecen“14.
Abgesehen von der biblischen Erzählung sollte man zweifellos auch das berühmte MärchenMärchen ‚Die Geschichte der zwei Brüder‘ bzw. ‚Das Brüdermärchen‘15 heranziehen. Dieser Bericht ist im Papyrus D’Orliney (ca. 1225 v. Chr.) erhalten. Diese Schilderung verbindet mythische Elemente mit denen der volkstümlichen Folklore16.
Es wird die Geschichte von zwei Brüdern erzählt, Anubis17 und Bata, den ägyptischen Göttern namensgleich; der ältere, Anubis, besaβ ein Haus, eine Frau und erheblichen Reichtum; der jüngere, Bata, arbeitete sehr hart für seinen Bruder auf dem Feld und im Hause. Einmal bat Anubis Bata darum, nach Hause zu gehen, um Saatkorn zu holen. Als der junge Mann zu Hause ankam, pries Anubis’ Frau seine Kraft und schlug