Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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gefehlt habe, sei „[…] celle de l’éducation, celle du milieu, celle de l’adéquation parfaite entre ce qu’on est et ce qu’on fait, entre soi et les autres, la protection de ceux qui ne sont pas des transfuges mais des héritiers et des continuateurs[…]“27. Agathe leidet unter ihrer Vereinzelung, dem Nichteingebundensein in die Tradition und Geschlechterfolge einer auf eine lange Reihe von Ahnen zurückblickenden und auf ihre Nachkommenschaft bauenden Familie und allen Nachteilen, die daraus für ihr Leben erwachsen sind. Wenn sich diese Identitätskrise Agathes in der „[…] sur la roche et les temps lointains […]“28 erbauten Abtei durch die Anwesenheit Marcs und ihr Gefühl, dass sie nicht mit ihm als Liebespaar Hand in Hand an diesem Ort sein sollte, verstärkt, so liegt dies daran, dass der Ort in ihrem Bewusstsein den Konflikt zwischen ihrem aktuellen Verhalten und einem tradierten Verhaltens- und Moralkodex, der ihr zumindest nicht gleichgültig ist, verstärkt.

      Die auf die erste Liebesnacht folgenden Tage in Saint-Thomas sind für Agathe und Marc eine vom Liebesrausch beherrschte Zeit, die Agathe gleichwohl nicht als ungetrübtes Glück empfindet. Mag man die von der Erzählstimme vorgenommene Gleichsetzung des Paares mit „[…] une île au large de toute terre […]“ 29 für einen durchaus situationsad­aequaten und genregemäßen Topos halten, so wird die Ambivalenz der Metapher sehr bald deutlich. Als Agathe mit Marc von Granville, einem Ort, von dem aus in früheren Zeiten Entdecker in See gestochen sind, zu den „Inseln“30 aufbricht, ist dies auch für Agathe zunächst ein Abenteuer.31 Auf der Insel jedoch wird der alle Grenzen aufhebende Eindruck des räumlich und zeitlich scheinbar Unendlichen durch die Übersichtlichkeit des leicht fußläufig zu „erobernden“ Raumes, eine mithin sehr alltägliche Erfahrung, relativiert. In eben diesem Ambiente, das zur Entdeckung und zum Abenteuer einlädt, aber zugleich von engen natürlichen Grenzen eingehegt wird, die Realitätssinn einfordern, stellt Agathe die sie zutiefst bewegende, über den Tag hinausgehende Frage: „Marc, qu’allons-nous faire?“ 32, der Marc zunächst gezielt ausweicht, indem er sie auf die unmittelbare Gegenwart bezieht.33 Auf das Drängen Agathes hin stellt er dann klar: „Tu ne comprends pas […] je veux être avec toi, pleinement […]“, um sogleich präzisierend hinzuzufügen: „[…] sans que rien vienne s’interposer, ni le passé ni l’avenir, je veux être avec toi“.34 Mit dem Ausschluss der Vergangenheit und Zukunft beschränkt Marc seine Beziehung zu Agathe auf die kurze „Gegenwart“ der Tage in Saint-Thomas, die er allerdings „voll“ auszuleben gedenkt. Agathe hat dies wohl auch verstanden, insofern sie zu Beginn eines längeren, durch ein „verbum dicendi“ eingeleiteten Gedankenberichts feststellt: „L’amour est une île […] une succession d’îles qui forme au mieux un archipel, mais pas un continent“.35 Das Bild der Insel evoziert in ihr sodann die Vorstellung der Diskontinuität, da schon die Annahme „[…] que le trajet et l’instant peuvent se confondre ou s’unir dans une continuité […]“36, illusorisch sei. Folglich ist Zeit für sie eine „[…] succession d’instants, et pour aller de l’un à l’autre, il fallait sauter, de rocher en rocher […]“37. Mit der Aufhebung von Kontinuität und Verlässlichkeit geht die enge Befristung und Unverbindlichkeit von Beziehungen einher. Agathe ist sich bewusst „[qu’] on ne pouvait prendre appui sur rien, le passé ne garantissait aucun avenir […] on n’était lié par rien, par aucune promesse […] il n’y avait aucun rapport entre une promesse et un rapport“.38 Auf die Frage Marcs, ob sie die Insel geliebt habe,39 antwortet Agathe zitternd, dass sie gerne geblieben wäre. Dabei bemerkt sie jedoch in ihren eigenen Worten eine erste Spur von Verzicht, und sie wird sich bewusst, dass sie sich der von ihr nicht geschätzten Haltung Marcs, den Augenblick zu genießen, annähert.40 Und als Marc ihre Frage, ob er nie an Véronique denke, glatt verneint,41 fragt sie sich, dabei auch an Loïc denkend, ob Männer im Unterschied zu Frauen in der Lage seien, „dichte Trennwände“ in ihrem Leben zu installieren.42 Im Übrigen ist sie sich nicht im Klaren darüber, welche Bedeutung Loïc für sie noch hat, kommt er ihr doch momentan eher wie „[…] un bel objet […]“ vor, das sie „bei sich“ aus Gründen des Stils nicht unterbringen kann, was wiederum die Frage aufwirft, ob sie daher einen Ortswechsel vornehmen sollte.43 Diese Haltung der Unentschiedenheit ist bei Agathe auch auf der Rückfahrt von der Insel nach Saint-Thomas zu beobachten. In einem eindeutig intern fokalisierten, metaphorischen Erzählmodus wird berichtet, dass das Leben für Agathe wie ein Boot sei, das zwar einen Hafen ansteuere, sich dabei jedoch auch treiben lasse und geduldig darauf warte, dass sich der Himmel öffne.44

      Rückfahrt und Neuanfang in Paris

      In den Gedanken Agathes bleibt Loïc auch in den letzten in Saint-Thomas verbrachten Stunden und auf der Rückfahrt nach Paris präsent. In der Nacht vor der Abfahrt erscheint Loïc Agathe in einem Traum und lässt sie wissen, dass er sie und Marc auf der Insel gesehen habe.1 Agathe, die so viele Hoffnungen mit Saint-Thomas verbunden hatte, befindet sich nun in einem Zustand der Orientierungslosigkeit – Je ne sais plus où je suis –, der völligen Erschöpfung – Elle se sentait à bout, à bout d’elle-même […] – und einer inneren Zerrissenheit, die dem „[…] partage, l’un et l’autre au lieu de l’un ou l’autre […]“, also ihrer „double vie“ geschuldet ist. Das Doppelleben bedeutet für sie, dass zwischen sie und die anderen, zwischen sie und die Welt etwas Trennendes getreten ist. Und schließlich wird ihr bewusst, dass „[…] entre elle et Loïc il y aurait ce silence, entre elle et elle-même, ce décalage qui l’empêcherait d’être entièrement d’un côté ou de l’autre“.2 Marc hingegen, der nach Saint-Thomas gereist ist „pour [se] distraire“, gesteht angesichts des unerwarteten Ablaufs immerhin ein: „[…] j’ai été surpris autant que toi par ce qui arrivait, il y avait quelque chose d’inéluctable.“3 Mit ihrer Reaktion „C’est Saint-Thomas“4 gibt Agathe zu verstehen, dass der Ort wohl eine Magie ausübt, der man sich nicht entziehen kann. Allerdings scheint deren Wirkung begrenzt zu sein, lässt die Erzählstimme uns im Moment des Abschieds doch wissen: „[…] il n’y avait pas de pont jeté vers l’avenir, peut-être pas d’avenir, et ils rentraient chacun chez soi.“5

      Im Moment der Rückkehr nach Paris befindet sich Agathe in einem Zustand anhaltender Orientierungslosigkeit, aus dem ihr auch Jeanne nicht herauszuhelfen vermag. Mit ihrem Rat, Loïc nicht über ihre Affäre mit Marc zu informieren,6 erschwert sie Agathe die Rückkehr zu ihm. Zu einem späteren Zeitpunkt wird sie ihr jedoch erklären, dass sie sich nicht von Marc als Person, sondern von dem, was er repräsentiere, anziehen lasse. Er verkörpere die „transgression“, also die Überschreitung einer Grenze, in diesem Fall der Grenze zwischen Freundschaft und verbotener Liebe.7 In demselben Gespräch entlockt Jeanne ihrer Freundin Agathe Details über ihre ersten Begegnungen mit Loïc bzw. Marc, die im Nachhinein einige Merkmale der späteren Beziehungen widerspiegeln. Agathe lernt Loïc „bei Freunden von Freunden“ in einer offensichtlich großbürgerlichen Wohnung im Herzen von Paris kennen.8 Außer den sie begleitenden und die Gesellschaft früh verlassenden Freunden kennt Agathe niemanden, bricht daher selber früh auf und trifft im Moment des Abschiednehmens im Hausflur auf Loïc. Er bestätigt ihre Vermutung, dass er gehen müsse, fragt aber, ob er sie anrufen dürfe „[…] pour qu’on se voie un peu plus au calme“.9 Ob Lucie zur Gesellschaft gehörte, ist ungewiss. Charakteristisch ist diese Szene insofern, als Agathe und Loïc eine von allen Freunden und Bekannten abgeschirmte Zweierbeziehung pflegen werden und jedes Zusammentreffen immer bereits auch durch die Erwartung des Aufbruchs geprägt ist.10 – Die erste Begegnung mit Marc geht auf gemeinsame Studienzeiten zurück. Man traf sich während eines Studentenstreiks in einer nur kurze Zeit existierenden Gruppe, die weder politisch noch gewerkschaftlich geprägt war. Marc wirkte auf Agathe nicht sonderlich anziehend, zumal er ein Verhältnis mit einer mindestens zehn Jahre älteren, ihn, wie Agathe meint, stark, wenn nicht zu stark bewundernden Frau pflegte und er, als E.N.A.-Kandidat ehrgeizig vertieft in seine Studien, auch kein Interesse an Agathe erkennen ließ. So liefert das erste Zusammentreffen der beiden keinerlei Indiz für ein möglicherweise entstehendes engeres Verhältnis. Wohl aber zeichnen sich bei Marc – im Hinblick auf seine berufliche Karriere – ein Zug elitärer Ambitioniertheit und – bezüglich seines Verhältnisses zu Frauen – eine verführerisch anmutende Ausstrahlung ab, auch wenn Agathe ihr damals nicht erlegen ist.

      Was Agathe in der Erinnerung an Saint-Thomas als „[…] le reliquat du voyage, l’apparence que prennent les rêves


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