Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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Verhältnis zwischen Agathe und Loïc ausgelöst wird, steht, anders als die Geschehnisse in Saint-Thomas, nicht mehr unter dem Einfluss oder gar der Magie des Ortes. Wohl aber werden die (vornehmlich) aus der Perspektive Agathes erzählten Entwicklungen in der Wahrnehmung ihrer Beziehung zu Loïc und Marc im Wesentlichen als Raumerfahrungen dargestellt. Dies wird bereits am Abend ihrer Heimkehr deutlich, als sie den gleichermaßen erwarteten, erhofften und befürchteten Anruf Loïcs entgegennimmt und den Eindruck gewinnt „[…] d’appartenir à un autre monde, d’être partie longtemps, et d’être revenue changée ou de n’être pas encore revenue“12.

      Von ähnlichen Empfindungen wird sie eingeholt, als sie unmittelbar danach ihrerseits Marc anruft und – […] parce que tout était question de vie ou de mort […] – 13 atemlos auf seine Reaktion wartet. Seine routinemäßig gestellte Frage „Comment tu vas?“ erinnert sie an „[…] le monde stable qu’elle avait quitté, où elle savait qu’elle aimait Loïc et personne d’autre, dans ce monde où des mots comme amour, amitié, avaient un sens défini, où rien ne risquait de se superposer, de se confondre – de troubler“.14 Aufgegeben hat sie diesen sicheren Grund, um sich – wie der Fliegende Holländer der Legende – auf „[…] une errance, une navigation perpétuelle […]“15 zu begeben. Dabei hat sie jedoch den Eindruck, nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben, sondern fremden Kräften ausgeliefert gewesen zu sein, während Marc mental stets in seiner „alten Welt“ verblieben war. Darum befindet er sich auch wieder auf dem sicheren Ufer, d.h. auf dem Weg zurück zu seinem alten Leben und damit abseits all jener Abgründe von Gefahren, die Agathes Vorstellung wie danteske Höllenbilder gefangen nehmen und sie zu verschlingen drohen.16 Für ihn ist es, wie er Agathe im Telefongespräch und später noch einmal bei einem Treffen in einem Café erklären wird, nicht „vernünftig“, das den „circonstances de Saint-Thomas“ geschuldete „Sich-gehen-lassen“17 über den Ort und den begrenzten Zeitraum hinaus fortzusetzen. Mit den Worten „Là-bas, c’était comme ça, ici c’est autrement“18 bringt er in lakonischer Kürze zum Ausdruck, dass es für ihn durch den jeweiligen Ort und die Umstände beeinflusste, letztlich von seiner Interessenlage bestimmte Verhaltenskodices gibt, die auf Empfindlichkeiten anderer Personen, in diesem Falle Agathes, keine Rücksicht nehmen.

      Agathe, die nach der Rückkehr nach Paris den Kontakt zu Marc sucht, wird ihrerseits von Loïc angesprochen, der ihr seine Absicht „[…] de tout dire à Lucie“ mitteilt.19 Loïc wirkt danach so befreit, als verlasse er ein Gefängnis, während Agathe angesichts dieses Entschlusses zwar von tiefem Mitgefühl für ihn und seine Handlungsweise ergriffen wird, zugleich jedoch angesichts des „Schiffbruchs ihrer Liebe“20 und aller vergangenen und zu erwartenden Widrigkeiten ihres Verhältnisses zu Loïc eine Katastrophe erwartet, die sich in ihrer Vorstellung in dramatischen Bildern darstellt: „Elle contemplait les morceaux de l’avion écrasé, les restes de la ville bombardée, les façades sans fenêtres qui se dressaient encore, les murs sans intérieur, et des larmes coulaient.“21 Die Metapher des Flugzeugabsturzes und seiner Folgen, die in ihrer Wucht die Schiffbruchmetapher noch übertrifft, übersetzt zunächst das Empfinden Agathes, aus einer großen Erwartungs- und Erlebnishöhe jäh abgestürzt zu sein. Sodann bringt sie die von Agathe in und um sich herum empfundene Leere zum Ausdruck, von der sie sich „aufgesogen“ und fast um ihr Bewusstsein gebracht sieht.22 Gesteigert wird ihre Irritation schließlich noch dadurch, dass sie sich im Moment des Abschieds von Loïc auf unwiderstehliche Weise zu Marc hingezogen fühlt, wobei ihr durchaus bewusst ist, dass dabei „[…] l’attrait de l’impossible face à la certitude du possible, l’inconnu face au connu […]“23 eine Rolle spielen dürfte.

      Dieser Reiz der Suche nach dem Äußersten, der risikoreiche Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, evozieren ein Bild aus dem Bereich der Seefahrt: Agathes – nicht erwiderte – Hinwendung zu Marc gleicht dem „[…] besoin d’affronter les mers du Sud quand tant d’autres océans sont assez vastes et moins extrêmes […]“24. Der in dieser bildhaften Gegenüberstellung zum Ausdruck gelangende innere Zwiespalt Agathes wird erneut sichtbar, nachdem Loïc sie über ein Gespräch mit seiner Frau in Kenntnis gesetzt hat. Er hat Lucie eröffnet, dass er in der Beziehung zu ihr nicht mehr Liebe, sondern nur noch „[…] la force de l’habitude, le sens du devoir, quelque chose lié à la situation plutôt qu’à la personne“25 erkenne. Agathe ist angesichts dieser Mitteilung, die Loïcs Liebe zu ihr und das ganze Ausmaß seines Verzichts und seines Leidens offenbart, tief berührt, zugleich löst die Möglichkeit eines Anrufs Marcs in ihr jedoch eine Mischung aus Furcht und Hoffnung aus. Sie empfindet den Unterschied zwischen diesen emotionalen Zuständen nicht als „simple écart“, sondern als „[…] un gouffre, un abîme, deux rives d’un fleuve qui n’appartenaient pas au même pays“26, mithin als Spaltung ihrer eigenen Persönlichkeit. In einem späteren Kontext wird das Bild des wankenden Bodens, der „sables mouvants“ variiert, wenn Agathe sich in ihrer Orientierungsnot in der Nähe eines kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkans wähnt und ihre einstmals klaren Leitvorstellungen und Wertmaßstäbe – [l]a netteté en laquelle elle avait toujours cru […] – in einer „[…] dans les brumes épaisses et humides […]“27 eingehüllten Landschaft verschwinden. Die innere Isolation Agathes entwickelt indes eine rasante Eigendynamik, insofern eine direkte, ungefilterte Kommunikation mit ihren Mitmenschen für sie nicht mehr möglich ist.28 Zwischen sie und ihre Kommunikationspartner hat sich eine Art innerer Prüf- und Vermittlungsinstanz eingeschlichen, die ihre Sprechbereitschaft auf ein Minimum einschränkt.29 Sodann werden ihre Treffen mit Loïc zu einem „[…] combat intérieur […]“30, der, wie sie hofft, Loïc verborgen bleibt, denn „[…] chacune de ses avancées, de ses propositions, déclenchait comme la rupture, en elle, d’un barrage que les flots emportaient et qu’il fallait à tout prix reconstruire“31. Agathe erlebt einen Auflösungs-und Desintegrationsprozess ihrer Person, durch den sie sich selbst so stark verändert fühlt, dass sie sich nicht mehr für wiedererkennbar hält. Der Vergleich ihrer inneren Verfasstheit mit dem Bruch eines Staudamms drückt auf überaus drastische Weise aus, in welchem Maß sie jeglichen Halt und jegliche Verhaltenssicherheit verloren hat. Die Ursache dieser pathologisch zu nennenden Persönlichkeitsstörung wird im auktorialen Erzählmodus und daher mit besonderer Autorität auf sehr einfache Weise so erklärt: „Quelque chose s’était perdu qu’on pouvait appeler l’innocence, le droit de juger les autres, de se sentir entière et sans faille […].“32

      Nachdem Lucie Loïc ultimativ aufgefordert hat, sich innerhalb von zwei Wochen zwischen ihr und Agathe zu entscheiden,33 wird Agathe ihrerseits von Loïc vor die Wahl gestellt. Agathe fühlt sich einerseits gedemütigt,34 andererseits möchte sie Loïc zwar nahe sein und ihm „alles erzählen“, meint aber, dazu nicht berechtigt zu sein.35 So bleibt es Loïc, der, anders als Agathe, durch eine klare Entscheidung seine „Unschuld“ wiedererlangt hat, vorbehalten, das Thema Saint-Thomas anzusprechen und Agathe seine Hilfe anzubieten. Agathe jedoch vermag nicht mehr ihre Worte und Taten in Übereinstimmung zu bringen und damit die Voraussetzungen der „Unschuld“ zu erfüllen. Sie gesteht, dass sie infolgedessen den Eindruck einer völligen Auflösung ihrer selbst hat:

      […] j’ai l’impression, si je me lève, que tout va s’écrouler, que les différentes parties de mon corps n’appartiennent plus au même corps, que mes pensées ne sont plus totalement les miennes, que certaines appartiennent à quelqu’un d’autre qui loge à l’intérieur de moi. Je ne peux plus rien dire.36

      2.4.3 Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“

      Nach einem Gespräch mit Jeanne, das Agathe nach Loïcs erster Reiseabsage geführt hat, erinnert sich Agathe, allein in ihrer Wohnung, daran, dass sie vor einiger Zeit an einem Sonntagabend mit ihrer Freundin Éliane an einer Messe in der Chapelle Notre-Dame-de-Grâce in Honfleur, deren hölzerne Dachkonstruktion einem umgedrehten Schiff gleicht, teilgenommen hat.1 Vom Licht, der schlichten Schönheit der Architektur der Anfang des 17. Jahrhunderts von Bürgern und Fischern errichteten Kapelle, von den Votivtafeln, die im Namen von vor dem Schiffbruch geretteten Matrosen angebracht waren, aber auch vom Gesang der versammelten Gemeinde fühlt sich Agathe zu Tränen gerührt. In diesem Moment erwacht in ihr, und in ihrer Freundin gleichermaßen, ein Gedanke, dessen Unerfüllbarkeit sie sich sofort bewusst wird: „[…]


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