Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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auf einem sicheren Wertefundament gegründeten Leben durchschaut Agathe bereits beim Verlassen der Kapelle als etwas nicht zu ihr Passendes. Gleichzeitig jedoch wirkt das für die Rückfahrt bereit stehende Auto auf sie wie „[…] l’instrument d’une errance stupide“3, d.h. dass sie die Fortsetzung ihres Lebens in der bisherigen Form für eine ziel- und damit sinnlose Angelegenheit hält. Die tiefere Ursache für ihre durch die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce ausgelöste emotionale Bewegung hat sie indes nach einer Zeit des Schweigens erkannt: „La chapelle éclairée était un peu à l’image de la vie qu’elle entrevoyait avec Loïc […].“4 So vermag ein realer Ort, dessen konfessionell-religiöse Prägung keineswegs mit dem Weltbild Agathes übereinstimmt, gleichwohl ihre Träume von einem gemeinsamen Leben mit Loïc zu konkretisieren, und sie schließt eine Änderung ihres Lebens nicht aus für den Fall, dass Lucie Loïc verlässt. Als sie über eine solche Perspektive nachsinnt, glaubt sie, für einen Moment durch das Autofenster im Halbschatten zu erkennen, wie „jemand“, also eine nicht identifizierte Person, unbekümmert über das Dach (der Kapelle) spaziert – eine Illusion, die das Unwirkliche des sehnlich Erwünschten unterstreicht.5

      2.4.4 Medial vermittelte Räume

      Die Mitteilung über die von Agathe getätigte Hotelbuchung für Saint-Thomas wird kontextuell eingerahmt von einem Exkurs über ihre Begeisterung für den Vendée Globe, die größte, mit zahlreichen Risiken und Gefahren verbundene Einhand-Segelregatta der Welt, und ihren Besuch einer Ausstellung über Polar­expeditionen im Jardin des Plantes, bei dem sie von Jeanne begleitet wird.1 Erzähltechnisch wird auf diese Weise eine Konstellation geschaffen, bei der disparate Ereignisse wie die in Sables-d’Olonne endende Weltumseglung einerseits und eine Wochenendreise von Paris nach Saint-Thomas andererseits durch die interne Fokalisierung in eine wechselseitige Beziehung gebracht werden. Die Länge und die Herausforderungen der Regatta, an die sich jeder Teilnehmer nur „[…] avec un mélange d’effroi et de nostalgie […]“2 erinnert, werden formal bereits durch die extrem mäandrierende Syntax widergespiegelt. Sodann werden die realen Gefahren durch die Erwähnung des im Januar 1998 verschollenen kanadischen Seglers Gerry Roofs und den Hinweis auf die Ursachen der existentiellen Gefahren untermauert: „[…] les certitudes n’existaient plus, […] les limites s’estompaient, entre les océans, entre l’eau et la glace, entre le ciel et l’eau, la surface et le fond, et même l’ultime limite, entre la vie et la mort.“3 Agathe ist von den „[…] récits de terreur apaisée […]“4 gleichermaßen fasziniert und erschüttert. Sie geben Grenzerfahrungen wieder, die von der „[…] alternance des pics et des abîmes, ce vertige du très haut et du très bas […]“5, mithin sehr gegensätzlichen Erlebnissen, geprägt sind und beim Hörer zwar ein gewisses Behagen, vor allem jedoch das Gefühl auslösen, dass das eigene Leben „[…] peu de choses au regard des terrifiantes aventures […]“6 bietet. In ihrer sie verzehrenden Vereinsamung einer schlaflosen Nacht erkennt Agathe jedoch eine Parallele zum Lebensgefühl der Segler, die durch die Orientierung an einem angestrebten Zielort zum Ausdruck gebracht wird: „[…] dans la nuit où le sommeil se dérobait, Saint-Thomas paraissait aussi lointain et irréel que les Sables-d’Olonne à ceux qui se trouvaient au bord de l’Antarctique.“7

      Das Naturkundemuseum des Jardin des Plantes ist ein Ort, der Agathe aus folgenden Gründen besonders anspricht und in ihrer Nachdenklichkeit bestärkt:

       Vor dem Hintergrund des Schicksals des französischen Seefahrers Binot Paulmier de Gonneville, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts glaubte, die legendäre Terra Australis entdeckt zu haben, in Wirklichkeit jedoch in Brasilien gelandet war, stellt sich ihr die Frage, ob die Menschen nicht auch in der fortschrittsgläubigen Gegenwart, in der durch die Möglichkeiten der Vermessung von Raum und Zeit Forscher- und Entdeckergeist geweckt wird, Dinge als „certitudes“ betrachten, die sich in zwei oder drei Jahrhunderten als „[…] le comble du ridicule ou de la naïveté […]“ herausstellen.8

       Trotz der Gegensätzlichkeit der beiden Pole, des bewohnten Nord- und des nicht bewohnten Südpols, haben „gewisse Forscher“ – […] certains explorateurs […] – 9 bewusst die Herausforderung dieser beiden „Extreme“ gesucht.

       Die „[…] blancheur absolue […]“10 der polaren Landschaft, die Unterschiedlichkeit der Pole, kurzum: „[…] cette étrangeté extrême […]“11 gebietet, wie Agathe im Unterschied zu ihrer sich in Banalitäten flüchtenden Freundin Jeanne meint, ehrfurchtsvolles Schweigen. Noch verstärkt wird diese Haltung staunender Bewunderung in Agathe durch Bilder der Erinnerung an berühmte Polarforscher wie den Norweger Roald Amundsen und den Franzosen Jean-Baptiste Charcot, die beide verschollen sind. Obwohl Agathe die in der Ausstellung präsentierten Darstellungen der Polargegenden zuvor nicht gesehen hatte, glaubt sie, dass sie seit langem „ihrem Herzen innewohnten“.12 Vielleicht spürten jenes “ […] serrement de cœur […]“, die durch die Pole ausgelöste Beklemmung, sogar alle Menschen, denn „[…] ces terres désolées […]“, diese vom ewigen Eis bedeckten Zonen seien „[…] l’image des zones intérieures auxquelles on ne pourrait jamais avoir accès, gelées dès le commencement, dès avant le début, et qui faisaient que, malgré toute la chaleur qu’on pouvait trouver auprès de quelqu’un, malgré le réconfort, on se sentait cruellement seul en pleine nuit, en pleine maladie – en pleine vie“13.

      Besteht das vom Vendée Globe ausgehende Faszinosum vor allem aus dem Mut des einzelnen Individuums zum Aufbruch in ein Abenteuer, das höchste Risiken bis zur Gefahr des Todes einschließt, so zeichnen sich die Expeditionen der Polarforscher zusätzlich durch das Erlebnis der Besonderheit der polaren Landschaften, nicht zuletzt auch durch die Konfrontation mit der abweisenden Undurchdringlichkeit des ewigen Eises aus. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch jener Reiz, der davon ausgeht, dass sich das Vertrauen in die durch technischen Fortschritt erlangten „certitudes“ als trügerisch erweisen könnte. Wenn Agathe den Zustand ihrer eigenen „Seelenlandschaft“ mit Erfahrungen von Individualisten in Verbindung bringt, die außergewöhnliche Herausforderungen suchen und alle damit verbundenen Entbehrungen und Nöte, von der extremen Einsamkeit bis zur Todesangst, in Kauf nehmen, so verdeutlicht dies einerseits das Ausmaß ihrer Vereinsamung und ihres Leidensdrucks, andererseits jedoch auch ihre geradezu heroisch anmutenden, in Wirklichkeit wohl eher verzweifelten, mit Ahnungen des Scheiterns verbundenen Anstrengungen, die Not der Isolation zu überwinden.

      2.4.5 Intertextuell vermittelte Räume

      Welche Bedeutung Literatur insbesondere für Agathe hat, wurde bereits bei einem Blick in das erste Kapitel deutlich.1 Neben dem ebenda und an mehreren anderen Stellen zitierten Roman Le marin rejeté par la mer von Yukio Mishima nimmt die Erzählinstanz auf zahlreiche andere literarische Werke, insbesondere von Agathe gelesene japanische Romane, Bezug.2

      In welchem Maße Agathe sich in Literatur „behaust“ fühlt, offenbart eine Szene, in der sie nach einem Gespräch mit Jeanne eine Buchhandlung betritt und dies von der Erzählstimme folgendermaßen kommentiert wird: „[… ] elle entra – et parfois, entrer dans une librairie, c’était entrer dans un autre monde, une autre dimension.“3 In dieser Welt sind die Bücher nicht tote Gegenstände, sondern

      [ils] attendaient comme des animaux au repos dans la jungle, ils avaient l’air anodins, inoffensifs, qu’est-ce que c’était, un peu de papier, du carton et de l’encre […] mais l’apparence était trompeuse, comme la tranquillité des bêtes de la jungle est trompeuse. Il suffisait de quelque chose qui donne l’éveil […] et l’animal bondissait, on était à la fois l’animal et la proie, le combat sans merci qui déchire les savanes écrasées de chaleur, qui s’enfonce au cœur des forêts les plus épaisses, on était la savane, les ténèbres, la forêt, on croyait seulement se distraire, lire un livre, et voilà qu’on devenait un personnage de l’histoire, l’histoire même, voilà que le chemin sur lequel on marchait et qui paraissait sûr se perdait dans les broussailles […]4

      Der kühne Vergleich von Büchern mit im Dschungel sprungbereit wartenden Tieren, sodann die Übernahme verschiedenster Rollen durch den Leser simulieren eine kampfähnliche, überfallähnliche Situation, die den Lesevorgang in bester rezeptionsaesthetischer


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