Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

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19). Radden (2011: 6f) weist darauf hin, dass temporale Ereignisse auch vertikal organisiert sein können. In asiatischen Sprachen geschieht das gelegentlich, aber auch im Englischen und anderen indoeuropäischen Sprachen gibt es durchaus Parallelen: Christmas is coming up, on top of things to do. In Mandarin heißt es shang-ban-nian (oberes halbes Jahr, das erste Halbjahr) oder xia-ban-nian (niedrigeres halbes Jahr, das zweite Halbjahr), im Koreanischen spricht man von sang-bangi (obere Halbperiode) und von ha-bangi (niedrige Halbperiode), im Japanischen von kami-han-ki (hoch halb Periode) und shimo-han-ki (niedrig halb Periode). Monatsanfang heißt in Mandarin yue-tou, (Monat Kopf/Spitze), Monatsende yue-di (Monat Boden). Das Koreanische lokalisiert das erste, zweite und dritte Drittel eines Monats nach sang-sun, jung-su und ha-sun, also obere, mittlere und untere 10 Tage (Beispiele nach Radden 2011: 6). Zudem gibt es in manchen Sprachen wie dem Chinesischen metaphorische Varianten der Markierungen, zum Beispiel durch die Bezeichnung von Kopf für frühere Ereignisse. Während in ostasiatischen Sprachen oben immer mit Vorzeitigkeit assoziiert ist und Nachzeitigkeit mit unten, ist das Englische in dieser Hinsicht nicht eindeutig festgelegt: »down to this day, down into the future, down the road, Rudolph the red-nosed reindeer, you’ll go down in history« (bekanntes amerikanisches Weihnachtslied). Diese Systematik ist nicht immer durchgängig lexikalisiert.

      Zyklische Zeitkonzepte, die auf einem räumlichen Konzept basieren, sind in vielen Sprachen statt linearer verbreitet. Die südamerikanische Sprache Toba verwendet zum Beispiel ein zyklisches Konzept von Zeit: Was außerhalb eines Blickfeldes ist, verschwindet (geht unter) in der unmittelbaren Vergangenheit (rechts vom Sprecher) oder taucht in der nahen Zukunft (links von ihm) auf (Radden 2011: 12). Es ist berichtet worden, dass Sprecher von Toba, aber auch von anderen Sprachen, links über die Schulter schauen, wenn sie auf die Zukunft verweisen (left shoulder phenomenon). Zyklische Raumkonzepte liegen auch den Vorstellungen von Jahres- und Saisonzyklen, Wochen- und Monatszyklen und sich wiederholenden, auf Uhren und in manchen Kalendern kreisrund dargestellten Stundenabläufen zugrunde. Verbunden mit der linearen Vorstellung von Zeitabläufen, die einmalig und unwiederbringlich sind, ergibt sich daraus ein spiralförmiges Konzept von Temporalität mit offenem Beginn und unbestimmtem Ende.

      Die Räumlichkeit von Zeitmodellen

      Woher kommen die Temporalitätskonzepte? Darüber lassen sich derzeit keine abschließenden Aussagen machen, aber es ist auffällig, dass die Konzepte mit einer Reihe von grundlegenden Räumlichkeitserfahrungen korrespondieren. In Bezug auf die in asiatischen Sprachen so weit verbreitete vertikale Konzeption der Zeit, kann vermutet werden, dass sich diese an der Schreibrichtung von oben nach unten in diesen Sprachen orientiert. Alternativ kann vermutet werden, dass das Flussmodell fließender Zeit durch die kulturelle Bedeutung des Jangtse Flusses in China gestärkt wurde. Da sich vertikale Konzepte aber auch in anderen Sprachen finden, kann angenommen werden, dass die menschliche Erfahrung von sich abwärts bewegenden Hängen hierbei einen Einfluss gehabt haben könnte (Evans 2004: 235f) oder auch die grundlegende Erfahrung von Krabbel- und Kriechbewegungen, bei der der Kopf in der Regel die Vorderseite markiert und damit anderen, sich nach vorne bewegenden Objekten wie Autos, Schiffen oder Flugzeugen ähnelt (Yu 1998: 111).

      2.2.2 Dimension der Temporalität

      Neben der kulturspezifischen, metaphorischen Konzeptualisierung drücken Tempusangaben implizit oder explizit unterschiedliche Aspekte der zeitlichen Referenz aus: neben inhärenten, semantischen Merkmalen wie zum Beispiel Perfektivität, Iterativität oder Inchoativität, auch funktionale Aspekte wie eine Unterscheidung zwischen Erzähltempora (Präteritum im Deutschen, weil es Abgeschlossenheit in der Vergangenheit ausdrückt) und Berichtzeit (Perfekt im Deutschen, weil das Ende offen ist). Diese können in Tempora wie dem Perfekt/Präteritum, imparfait, present perfect oder auch lexikalisch wie in Präfixen im Deutschen ausgedrückt werden (auf-, ver-, abblühen als Aktionsart). Die Tempora drücken unterschiedliche Referenzen auf die Ereignis-, die Referenz- und die Sprechzeit aus. Eine Äußerung wie Che ist mit dem Motorrad durch Südamerika gefahren markiert nicht nur eine bestimmte, hier nicht näher benannte, aber bekannte Referenzzeit in der Vergangenheit (1952) und deren potenzielle Unbegrenztheit, sondern auch einen Sprechzeitpunkt außerhalb der Ereigniszeit (zum Beispiel gerade eben). Zudem markiert eine Äußerung, der Professor hat gesagt, Che ist … gefahren eine weitere Referenzzeit zum Ereignis. Diese Referenzaspekte gilt es im Sprachunterricht und Spracherwerb insofern zu berücksichtigen, als auch bei ihrer Realisierung kulturspezifische Präferenzen wirken können oder müssen.

      Im Fremdsprachenunterricht werden Fragen des Ausdrucks von Zeit in der Regel auf lexikalische und formale Aspekte reduziert. Selten geht es um Funktionen der Temporalität. Es wird also vor allem das unmittelbar erforderliche Inventar für den Ausdruck zeitlicher Verhältnisse genannt: gestern, heute, morgen, vor einer Woche, in einer Stunde, immer, der Tag, der Monat, das Jahr, 13 Uhr, 1984, eine Ewigkeit. Und es werden die – meist obligatorischen – grammatischen Markierungen des Tempus eingeführt, in der kommunikativen Didaktik das Perfekt vor dem Präteritum, weil es in der Umgangssprache häufiger ist, aber ansonsten am besten rein topologisch, also die kurzen Tempusformen vor den zusammengesetzten. Ob das Präsens überhaupt ein Tempus ist, ob die Partizipien nicht eher Adjektive sind und wie Tempus und Aspekt zusammenhängen, interessiert dabei nicht, ist vielleicht für Lerner auch nicht unbedingt wichtig. Die Konsequenzen dieser linguistischen Diskussion könnten jedoch vermittlungsrelevant sein, aber das fällt meist unter den Tisch, weil diese zu einer Komplexität führen könnten, deren Bewältigung Lernern trotz des Lebensbezuges nicht zugetraut wird. Dabei wären aber doch folgende Fragen durchaus für die Vermittlung von Sprachen hoch relevant: Wann lässt sich Temporalität rein lexikalisch markieren? Wieso wird sie oft implizit ausgedrückt und unter welchen Bedingungen? Wieso kann man im Deutschen etwa mit dem Präsens fast alle Tempora ausdrücken? Worin besteht der Unterschied zwischen Präteritum und Perfekt? Welche textkonstituierenden Funktionen haben Tempora eigentlich? Wieso sagt man im Westdeutschen bin angefangen und nicht habe, wieso kann ein Rennfahrer gefahren haben und gefahren sein? Dazu gibt es recht viel und umfangreiche, oft auch kontroverse Literatur. Vater (2007) gibt unter Rückgriff auf einschlägige Forschungsliteratur eine konzise Darstellung der wichtigsten Orientierungslinien, mit denen die Komplexität des temporalen Systems von Sprachen, vor allem des Deutschen, übersichtlich erklärt werden kann. Auf seine Darstellung nimmt der folgende Abschnitt Bezug.

      Ereignis-, Referenz- und Sprechzeiten

      Unter dem Begriff Temporalität lassen sich alle Funktionen und Mittel fassen, die zeitliche Dimensionen in der Sprache ausdrücken, also Aspekte der innersprachlichen Temporalsemantik und der Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit besteht in Zeitpunkten, Zeiträumen und Zeitspannen, Vorgängen und Vorgangsweisen (zum Beispiel in Beginn, Dauer, Ende, Wiederholbarkeit, Gleichzeitigkeit, Vor- oder Nachzeitigkeit) und anderem, die wir als rekurrente Muster erkennen (vergleiche Oakley 2007). Temporale Beziehungen können lexikalisch explizit, etwa durch Adverbiale ausgedrückt werden, durch grammatische Mittel wie Tempus und Aspekt erscheinen oder implizit gegeben sein, etwa durch lokale Angaben oder situative Voraussetzungen wie etwa in der Warnung »Achtung«, die weder eine adverbiale noch eine grammatische Zeitmarkierung enthält.

      Die durch das Tempus ausgedrückte Temporalität lässt sich nach dem einflussreichen Schema von Reichenbach (1947) nach drei Kriterien bestimmen:

      1 SprechzeitSprechzeit (S, point of speech);

      2 EreigniszeitEreigniszeit (E, point of event);

      3 ReferenzzeitReferenzzeit (R, point of reference).

      Die SprechzeitSprechzeit (S), bei Klein (1994) time of utterance (TU), bezeichnet die Referenz auf den Zeitpunkt oder Zeitraum, in dem die Äußerung produziert wird. Von dort aus kann ein Ereignis (E) zuvor, gleichzeitig oder später stattfinden. Es war schön im Urlaub bedeutet also, dass E vor S erfolgt ist. Wann genau, kann ein Sprecher zudem lexikalisch markieren (etwa durch letztes Jahr). Der Urlaub war so teuer, dass ich mir lange Zeit keinen mehr leisten


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