Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche


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verwendet, allen Sprachen ist jedoch der Prozess der Metaphorisierung gemeinsam, nach dem ein bestimmter konzeptueller Inhalt von einer Quellendomäne auf eine Zieldomäne übertragen wird.

       Metaphern sind also dynamisch und produktiv und können sich in allerlei Kontexten als ein wichtiges Mittel zum Ausdruck komplexer abstrakter Sachverhalte erweisen.

       Im Fremdsprachenerwerb werden sie bereits auf den niedrigsten Niveaustufen verwendet, allerdings aus qualitativer und quantitativer Sicht anders als auf höheren Niveaustufen.

       Bei der Metaphernverarbeitung wirken viele Faktoren zusammen. Der Konventionalitätsgrad und die Salienz der Wortbedeutungen sind oft für die Art der Verarbeitung entscheidend.

      2.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle

      1 Wie lassen sich Metaphern definieren und welche Arten gibt es?

      2 Welche sind die wichtigsten Beschränkungen der konzeptuellen Metapherntheorie?

      3 Wie würden Sie den Begriff Bildschema definieren und welche Beispiele würden Sie für ihre Verwendung in der Sprache geben?

      4 Welche Faktoren spielen bei der Metaphernverarbeitung eine Rolle?

      5 Warum ist die metaphorische Kompetenz im Fremdsprachenerwerb so wichtig?

      2.2 Raum und Zeit

      In dieser Lerneinheit beschäftigen wir uns mit Aspekten von Raum- und Zeitkonzepten und ihrem sprachlichen Ausdruck. Mit Hilfe von Raum- und Zeitkonzepten strukturieren und organisieren wir die Wahrnehmung von Ereignissen, die unser Leben bestimmen. Dabei zeigt sich, dass zeitliche Konzepte oft auf räumlichen Metaphern aufbauen. Zeit- und Raummarkierungen sind so fundamental für das Leben, dass viele Sprachen obligatorische Markierungen von Raum (Räumlichkeit) und/oder Zeit (Temporalität) vorsehen. Dies drückt sich zum Beispiel in obligatorischen Raum- oder Richtungsangaben und im Tempus (also den Zeitmarkierungen in Sätzen) aus. Zeit- und Raumangaben sind dabei so eng miteinander verbunden, dass sie sich gegenseitig implizieren.

      Temporalitätskonzepte sind in der Regel in Sprachen so fixiert (entrenched) und konventionalisiert, dass sie grammatikalisiert sind und diese obligatorischen Markierungen nicht immer konzeptuell transparent bleiben. Der Bezug zu den historischen Wurzeln ihrer Entstehung geht verloren. Diese sprachlichen Markierungen schreiben den Nutzern vor, wie sie die Welt zu konzeptualisieren haben, und sie verlangen von Lernern ein »Umdenken«, wenn sie diese Konzeptualisierungswege bisher nicht kennen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die strukturellen Formen ein kleineres Problem sind als die eingefahrenen Konzepte.

       Lernziele

      In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

       verstehen, wie Raum- und Zeitkonzepte miteinander in Beziehung stehen und wie sie in verschiedenen Sprachen kulturspezifisch realisiert werden;

       Argumente für eine semantische, funktionale und pragmatische Darstellung von Grammatik neben einer formalen Darstellung kennen;

       grammatische Zeitausdrücke, insbesondere Tempus vor dem Hintergrund kulturspezifischer, konkreter Raumerfahrungen temporalsemantisch, funktional und pragmatisch erklären können.

      2.2.1 Beziehungen von Raum und Zeit

      Raum und Zeit sind Grundgrößen jeder Kommunikation. Wenn wir sprechen oder schreiben, auch wenn wir sprachlich denken (innere Sprache), tun wir das in einer bestimmten Situation, die einen Raum sowie einen Anfang und ein Ende hat. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um eine reale oder virtuelle, um eine geschlossene oder offene Situation und den entsprechenden Raum handelt. Raum und Zeit sind immer da. Und sie sind von jedem Sprecher und Lerner ständig erfahrbar. Es ist interessant, dass wir auch in neuen virtuellen Räumen in Outer Space (Weltall) und Cyberspace auf Raum- und Zeitkonzepte zurückgreifen, die wir aus unserer irdisch-konkreten Erfahrung kennen und für die uns unsere Sprachen irdisch-konkrete Mittel zur Verfügung stellen (Raumschiff, Station, Chat Room, Forum, Archiv, Bibliotheken, hoch- und herunterladen/up-/downloading, Speicher, Webseite …). Raum und Zeit lassen sich jedoch unterschiedlich gestalten und perspektivieren. Man kann den Raum etwa als Größe ansetzen (im Auto, in der U-Bahn, unter freiem Himmel, in der Straße), die man nach vertikalen, horizontalen oder lateralen (in den Raum führenden) Aspekten organisiert, sie als veränderlichen Container konzeptualisieren (einen Ballon aufblasen, vor Wut platzen), in Bezug auf seine Begrenzung markieren (im Zimmer/in das Zimmer), seine Richtung, seinen Zugang oder Ausgang thematisieren (zur Post/nach Hause, hinein – heraus) oder auch deiktisch einteilen (hier –da – dort) und vieles mehr. Es gibt linguakulturelle (sprachentypische) Präferenzen dafür, aber ein Sprecher hat innerhalb der gebotenen Möglichkeiten weitere Differenzierungsoptionen. Grammatiken erklären oft nur den formalisierten und fossilisierten Stand einer Sprache, aber nicht den konzeptuellen Gehalt ihrer Mittel und deren Entwicklung. Dabei ergeben sich daraus viele prinzipielle Gemeinsamkeiten von unterschiedlich erscheinenden Sprachen, die sich in der Sprach- und Kulturvermittlung wunderbar nutzen ließen. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie ähnlich sich Sprachen oft sind und welche Gemeinsamkeiten Zeit- und Raumkonzepte dabei in konzeptueller Hinsicht aufweisen. Anschließend wird gezeigt, woher diese Gemeinsamkeiten kommen können und wie Lerner im ungesteuerten Spracherwerb die Aufgaben des Erwerbs von Räumlichkeits- und Temporalitätskonzepten angehen.

      Gemeinsamkeiten von Räumlichkeit und Temporalität

      Räumlichkeit und Temporalität lassen sich in ihrer Dimensionalität (ein-, zwei-, dreidimensional), ihrer Orientierung nach Horizontalität oder Vertikalität und ihrer Form (linear, zyklisch) fassen. Zum Beispiel: vor einem Monat (vorigen Monat)/vor einer Tür …, nach dem Unterricht/nach (hinter) dem Ortsschild, neben (nebenbei), und zwar nicht nur im Deutschen. Im Samoanischen entspricht vorgestern zum Beispiel der Bezeichnung der Tag hinter gestern (talaatu ana-nafi) und übermorgen der Bezeichnung der Tag hinter morgen (talaatu taeao) (Mosel nach Radden 2011: 28). Es verwundert daher kaum, dass räumliche Bewegungen und Grenzüberschreitungen ihre Parallelen in der Temporalität haben (passing time, der kommende Feiertag, die Zeit überschreiten). Eine Ortsangabe impliziert, dass sie zu einer bestimmten Zeit passierte, eine Zeitangabe impliziert, dass sie an einem bestimmten Ort stattfand (um 3 Uhr, in der Schule). Welche Aspekte oder Perspektiven von Räumlichkeit und Temporalität eine Sprache jedoch wählt, ist ihren Sprechern überlassen.

      Diese sprachlichen Perspektivierungen sind Ergebnisse konzeptueller Profilierungen (construal). Im Deutschen und Englischen stellt man sich zum Beispiel bestimmte Raumereignisse als Behälter vor (im Regen, in the rain), während in romanischen Sprachen eine Fläche die konzeptuelle Grundlage bildet (bajo la lluvia, sous la pluie). Im Englischen spielt die Verlaufsform (going to, eating) eine wichtige Rolle, im Deutschen dagegen der Aspekt der Abgeschlossenheit oder Nicht-Abgeschlossenheit verschiedener Ereignisse in der Vergangenheit (Unterschied von Präteritum und Perfekt), im Französischen werden sich wiederholende Ereignisse (Iterativität) mit dem imparfait markiert. In vielen Kulturen wird Zeit als linearer (räumlicher) Vorgang verstanden, mit einem präsentischen Zentrum, von dem aus der Betrachter in seinem Bezugssystem (Origo) nach vorne und nach hinten in die Zeit schaut. Die Reihung der Zeitabschnitte ergibt sich dabei entweder aus der äußersten Vergangenheit zur äußersten Zukunft oder auch »gegenläufig« durch die Änderung der Blickrichtung des Sprechers in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Die Blickrichtung des Sprechers ist damit eine lokalisierbare (er blickt nach vorne oder nach hinten, zum Beispiel facing hard times). Man spricht hier auch von ego-aligned (nacheinander gereihten) und ego-opposed (gegenläufigen) Perspektiven. In Hausa und anderen westafrikanischen Sprachen findet sich eine ähnliche Perspektivierung im Ausdruck der Temporalität. Hier ist aber die Entfernung vom Betrachter das unterscheidende Kriterium. Ein früherer Wochentag kann so zum Beispiel als vor


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