Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche


Скачать книгу
sollen die wichtigsten Prinzipien einer kognitionslinguistisch ausgerichteten Sprachdidaktik zusammengefasst und ergänzt werden, bevor im letzten Kapitel das Modell einer kognitiven Sprachdidaktik präsentiert und illustriert wird. Festzuhalten ist also:

      Für den erfolgreichen Erwerb von grammatischen Konstruktionen ist erstens der Erwerb ihrer Bedeutung zwingend erforderlich (vergleiche Langacker 2008b, 2008c). Zweitens muss die zunehmende Schematisierung und Kategorisierung konkreter sprachlicher Äußerungen einer grammatischen Struktur aus authentischem Input und nicht durch die explizite Regelerklärung erfolgen (vergleiche Achard 2008). Drittens ist die Grammatik kein arbiträres und abstraktes System, sondern sie ist konzeptuell motiviert und organisiert sich nach den Prinzipien der allgemeinen Kognition und Perzeption körperlicher Erfahrungen (vergleiche Evans & Green 2006). Aus diesem letzten Aspekt ist zu schließen, dass die Grammatik auch durch konkrete, körperliche Erfahrungen vermittelbar sein sollte (vergleiche Littlemore & Low 2006b; Suñer 2013: 16). Erst über diesen Weg lassen sich konkrete Handlungen mental simulieren und damit die Grammatik erfahrbar machen. Eine solche Vermittlung kann durch entsprechende körperliche Erfahrungen (Gestik oder Mimik) gestützt werden oder auch durch Animationen erfolgen, die ein grammatisches Phänomen einer Sprache kognitionslinguistisch verbildlichen. Wie das konkret erfolgen kann, zeigt Kapitel 7 anhand verschiedener grammatikalischer Bereiche.

      Wie Sie in Kapitel 8 sehen werden, erweisen sich die handlungsorientierten Ansätze als ein besonders geeigneter methodischer Rahmen für den Einsatz von Grammatikanimationen. Ganz im Sinne der kognitionslinguistischen Postulate gehen handlungsorientierte Ansätze davon aus, dass Wörter und Grammatik als Handlungen verstanden werden können und dass aus ihrem Erfolg gelernt werden kann (vergleiche auch das Handlungsprinzip nach Roche, Reher & Simic 2012: 32). In anderen Worten: Erst durch den Gebrauch von Sprache in einer konkreten Handlungssituation können grammatische Konstruktionen erworben und nach situationaler Differenzierung weiter elaboriert beziehungsweise spezifiziert werden (vergleiche auch das Situativitätsprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Diese Prinzipien korrespondieren mit dem kognitionslinguistischen Postulat der Gebrauchsbasiertheit insofern, als dass Sprachen erst durch ihren aktuellen Gebrauch in konkreten Situationen schrittweise erworben werden können (vergleiche Behrens 2009; Bybee 2008; ausführlicher siehe Lerneinheit 8.2). Vor diesem Hintergrund unterstützen Grammatikanimationen die mentale Repräsentation konkreter Handlungen und machen damit die Verbindung zwischen situationsspezifischen Aspekten von Handlungen und den entsprechenden Sprachmitteln transparent (vergleiche dazu Kapitel 7). Dieses Prinzip lässt sich beispielweise so umsetzen, dass die Lerner nach einer ersten Phase der Exploration der Animationen die dort abzuspielenden Handlungen selbst gestalten. Durch das anschließende Abspielen der gestalteten Situation können die Lerner ihre Vorstellungen überprüfen und sich den Zusammenhang zwischen Sprache und Handeln nochmals vor Augen führen. Außerdem lassen sich Grammatikanimationen besonders gut in kooperativen Lernsettings einsetzen, denn sie bieten Lernenden durch ihre vordergründige Unvollständigkeit und ihre induktive Präsentationsform vielfältige Impulse für das selbständige Problemlösen in der Gruppe (vergleiche Entwicklungsprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Schließlich ist zu erwähnen, dass die in Grammatikanimationen abzubildenden Situationen die Interessen und Bedürfnisse der Lerner berücksichtigen sollen, um die nötige Salienz und Relevanz zu erzeugen (vergleiche auch Relevanzprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Erst durch die Einbeziehung der Lernerwelt in die Grammatikanimationen können lernrelevante Prozesse (Hypothesenbildung, Analogiebildung etc.) initiiert werden, die den sukzessiven Aufbau der (Fremd-)Sprache ermöglichen (vergleiche Roche et al. 2012: 32).

      Eine im Sinne der kognitiven Linguistik ausgerichtete kognitive Sprachdidaktik lässt sich folgendermaßen beschreiben (ausführlicher siehe Lerneinheit 8.3): Die Bezeichnung kognitive Sprachdidaktik leitet sich von ihrer wichtigsten linguistischen Bezugsdisziplin, der kognitiven Linguistik, ab. Die kognitive Linguistik basiert nach Evans (2012) auf den folgenden Annahmen: Sprache ist Konzeptualisierung (thesis that meaning is conceptualisation), Sprache ist und entwickelt sich gebrauchsbasiert und damit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (usage-based thesis), Bedeutung ergibt sich aus der Gesamtheit des Wissens aller konzeptuellen Bestände (thesis of encyclopedic semantics) und körperlicher Erfahrungen (thesis of embodied cognition) und Form und Bedeutung bilden eine Einheit (symbolic thesis) (vergleiche Evans 2012). Die kognitive Sprachdidaktik macht die konzeptuellen und semantischen Bezüge linguakultureller Systeme transparent und interkulturell salient. Sie geht nicht nur von strukturellen Unterschieden zwischen Sprachsystemen aus, sondern fasst konzeptuelle Unterschiede als Elemente linguakultureller Systeme auf und vermeidet damit die artifizielle Trennung zwischen Sprache und Kultur, die in der Sprach- und Kulturvermittlung oft in Form von isoliertem Landeskundeunterricht betrieben wird. Die kognitive Sprachdidaktik passt die Sprachvermittlung an das an, was ein Lerner in einer bestimmten Entwicklungsphase verarbeiten kann, verbindet die Erkenntnisse der kognitiven Linguistik mit denen der Spracherwerbsforschung, Lernpsychologie und Psycholinguistik. Da sich Sprachen und ihre Grammatiken phylo- und ontogenetisch aus Handlungen und Bedeutungen entwickeln, ist die kognitive Sprachdidaktik eine handlungsorientierte und grundsätzlich landeskundlich-interkulturelle lernerorientierte Didaktik mit einer starken Affinität zu kommunikativen Prinzipien und authentischer sprachlicher Variation und distanziert sich von Kognitivierung im Sinne metasprachlicher Bewusstmachungsverfahren.

      1.1.6 Zusammenfassung

       Die kognitive Linguistik hebt sich von anderen Ansätzen dadurch ab, dass sie Sprache als Mittel zur Konzeptualisierung der Realität definiert, das durch die Interaktion zwischen Individuen in einem bestimmten kulturellen Kontext fixiert und durch allgemeine Lernmechanismen erworben wird.

       Die kognitive Linguistik geht weiterhin davon aus, dass Sprache ein bedeutungsvolles System symbolischer Strukturen darstellt, das sich anhand von Prinzipien allgemeiner Kognition erklären und weniger durch ein festes Regelwerk generieren lässt. So können unter anderem Prototypeneffekte, Metaphorisierung und Polysemie die Lexik und die Grammatik einer Sprache erklären.

       Schließlich lässt sich der Mehrwert einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik unter anderem durch die kognitive Plausibilität der Sprachbeschreibung sowie durch die hohe Kompatibilität mit handlungsorientierten Ansätzen begründen.

      1.1.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle

      1 Was sind die größten Unterschiede zwischen der kognitiven Linguistik und dem Generativismus?

      2 Was ist das cognitive commitment in der kognitiven Linguistik?

      3 Was bedeutet genau, dass die Sprache gebrauchsbasiert ist?

      4 Was ist ein Prototypeneffekt und welche Rolle spielt er in der Grammatik?

      5 Wie würden Sie den Mehrwert einer kognitiv ausgerichteten Didaktik begründen?

      1.2 Sprache und das mehrsprachige Gehirn

      Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer)

      Die Sprachverarbeitung ist eine der komplexesten Aufgaben, die unser Gehirn bewältigen muss. Sie verlangt das Zusammenwirken vieler Bestandteile, die über das gesamte Gehirn hinweg in einem Netzwerk miteinander verbunden sind, wobei einige Teile des Gehirns dabei stärker eingebunden sind als andere. Früher hat man geglaubt, dass bestimmte Sprachelemente in bestimmten Bereichen des Gehirns verarbeitet werden. Mittlerweile herrscht Einigkeit darin, dass es keine Netzwerkbereiche gibt, die ausschließlich der Sprachverarbeitung dienen, und dass viele Bereiche des Netzwerks in beiden Gehirnhälften eine Rolle spielen.

       Lernziele

      In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

       erklären können, welche Bereiche des Gehirns für die Sprachverarbeitung wichtig sind;

       zwischen verschiedenen Arten des Sprachverlusts und der Sprachwiedererlangung bei bilingualen Patienten mit Aphasie unterscheiden können.

      1.2.1


Скачать книгу