Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche


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Automatisierung, Gewohnheiten, ex-ante und ex-post Stimulierung, Angemessenheit, Notwendigkeit, Affektivität, Schwere der Aphasie, Art der Zweisprachigkeit, Art der Aphasie oder strukturelle Distanz zwischen den Sprachen konnte die verschiedenen nicht-parallelen Restitutionsmuster angemessen erklären. (Paradis 2001: 90)

      Diese Daten zeigten also bereits, was bildgebende Verfahren in der Neurologie später bestätigten: Unterschiedliche Sprachen besitzen nicht jeweils einen eigenen Ort im Gehirn, sondern befinden sich in einzelnen Zell-Netzwerken innerhalb der bekannten Sprachbereiche im Gehirn. Die Literatur kennt einige Fälle, in denen bei Patientinnen und Patienten verschiedene Formen der Aphasie in unterschiedlichen Sprachen auftraten. Das würde die Vorstellung unterstützen, dass Sprachen ihre eigenen Bereiche im Gehirn einnehmen. Paradis (2004: 65ff) diskutiert eine Reihe von Fällen, die als differentielle Restitution bezeichnet wurden. Er schließt daraus, dass sich diese Art der Restitution auf den Grad der Störung in unterschiedlichen Sprachen bezieht und dass es sich nicht um tatsächlich unterschiedliche Störungsvarianten bei den untersuchten Patienten und Patientinnen handelt. Theoretisch gibt es wahrhafte Datenozeane in den Krankenhäusern der Welt, die eine neurologische Abteilung haben, die man hinzuziehen könnte, um diese Fragen genauer zu beantworten, da die meisten eingelieferten Patienten und Patientinnen entweder bilingual oder bidialektal sind. Idealerweise sollten sie so früh wie möglich und dann noch einmal ein paar Tage später getestet werden, um das Ausmaß der Verschlechterung oder der Wiedererlangung der Sprachen festzustellen. Der bereits existierende bilingual aphasia test (vergleiche Paradis & Libben 2014), ein ausführlicher Auswahltest, der in vielen Sprachen verfügbar ist, könnte dazu herangezogen werden.

      Während es für monolinguale Sprecher und Sprecherinnen nur eine Möglichkeit der Sprachtherapie gibt, können bilinguale und multilinguale Personen ihre Therapie in mehr als einer Sprache erhalten. Es gibt eine rege Diskussion darüber, welches der effektivste Ansatz sei: Sollte man die am stärksten ausgeprägte Sprache, meist die Erstsprache, behandeln und darauf hoffen, dass die weiteren Sprachen zurückkehren, oder sollte man eine Zweit- oder Drittsprache verwenden, um das gesamte Sprachsystem zu reaktivieren?

      Unterschiede zwischen bilingualer und multilingualer Aphasie

      Die Definitionsprobleme bezüglich Bilingualismus und Multilingualismus werden dann besonders akut, wenn man versucht, sie in Bezug auf Aphasie zu vergleichen. Die Fachliteratur, die sich auf dieses Thema bezieht, ist dadurch eingeschränkt, dass sich die Berichte selektiv für besonders außergewöhnliche oder spannende Fälle interessieren. Das macht es schwierig, generalisierbare Aussagen zu treffen. Aus heutiger Sicht ist ebenfalls problematisch, dass die Berichte aufgrund fehlender Standards nur ein unvollständiges Bild liefern. Belastbare Schlussfolgerungen kann man deswegen kaum aus den verfügbaren Studien ziehen. Albert & Oblers (1978) Meta-Analyse konnte keine signifikanten Unterschiede zwischen Bilingualen und Multilingualen feststellen, weist aber auf einige Tendenzen hin:

       Mehrsprachige scheinen die zuerst erworbene Sprache besser wiederzuerlangen, während Bilinguale eher die Sprache wiedererlangten, die sie als Letztes gelernt und häufiger genutzt hatten.

       Bei multilingualen Sprecherinnen und Sprechern kam es öfter zu nicht-paralleler Restitution.

       Die erste Sprache verschlechtert sich bei der Wiedererlangung der zweiten Sprache eher bei multilingualen Personen als bei bilingualen.

      Das Hauptproblem besteht weiterhin darin, dass zu den Patienten und Patientinnen kaum Informationen über prämorbide Sprachfähigkeit und Sprachnutzung vorhanden sind, um diese Tendenzen zu belegen. Nicht-parallele Restitution spiegelt sehr wahrscheinlich die Unterschiede in der Sprachfähigkeit vor der Gehirnverletzung wieder.

      1.2.3 Neuroplastizität und Zweitspracherwerb

      Obwohl das Gehirn lange Zeit als feste Struktur gesehen wurde, die menschliches Verhalten einschränkt, wird heutzutage übereinstimmend davon ausgegangen, dass das Gehirn tatsächlich auf äußere Reize reagiert und sich ihnen anpasst. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Ausmaß des Einflusses, den der Erwerb und die Verwendung einer Zweit-, Dritt-, Viertsprache auf funktionale und strukturelle Veränderungen im Gehirn ausüben.

      Green, Crinion & Price (2006) beziehen sich auf eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass es ein Verhältnis zwischen der Struktur des menschlichen Gehirns und bestimmten Lernaufgaben gibt. Die bekannteste Studie ist vermutlich von Maguire, Spiers, Good, Hartley, Frackowiak & Burgess (2003), die sich mit Unterschieden in der Gehirnstruktur zwischen erfahrenen und unerfahrenen Taxifahrern und Taxifahrerinnen in London beschäftigte. Diese Querschnittsstudie kam zu dem Ergebnis, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Erfahrenheit des Taxifahrers oder der Taxifahrerin und der Dichte der grauen Substanz sowie der Größe bestimmter Areale gibt. Bestimmte Erfahrungen führten also zu strukturellen Veränderungen im Gehirn.

      Harding, Paul & Mendl (2004) beobachteten das Verhältnis zwischen dem Erlernen des Jonglierens und der lernbedingten Formbarkeit (Plastizität) des Gehirns. Sie verglichen eine Gruppe, die dabei war, das Jonglieren zu lernen, mit einer Gruppe, die nicht jonglieren konnte. Ihre Gehirne wurden vor dem Jongliertraining, drei Monate nach dessen Beginn und nach drei weiteren Monaten untersucht. Bei der ersten Untersuchung gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen bezüglich der Dichte der grauen Substanz, bei der zweiten Untersuchung gab es bei der Jongliergruppe im Vergleich zur vorherigen Messung eine signifikante, bilaterale Expansion der grauen Substanz im mittleren Bereich des Temporallappens und im linken hinteren sulcus intraparietalis. Dieser Unterschied vergrößerte sich nochmals in der Zeit nach dem zweiten Scan. In dieser Zeit jonglierten beiden Gruppen nicht. Die Plastizität war in den visuellen Bereichen ausgeprägter als in den motorischen Arealen, was womöglich mit den spezifischen Anforderungen der geübten Drei-Ball-Kaskade zusammenhängt. Die Frage ist nun: Ist auch das Erlernen einer Sprache eine Aufgabe, die strukturelle und funktionale Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann? Diese Frage wurde bisher nur teilweise beantwortet.

      Die nächste Einheit beschäftigt sich mit den spezifischen neurologischen bildgebenden Verfahren, die verwendet werden, um zu erkennen, ob die Verwendung einer Zweit- oder Drittsprache zu Veränderungen im Gehirn führt.

      1.2.4 Zusammenfassung

       Die klassischen Sprachbereiche im Gehirn sind das Broca-Areal, das hauptsächlich für die Sprachproduktion zuständig ist, und das Wernicke-Areal, das hauptsächlich für das Sprachverständnis zuständig ist. Jüngere neurologische Untersuchungen schlagen allerdings differenziertere Erklärungen vor, wie zum Beispiel die Aufteilung zwischen Grammatik (Broca) und Bedeutung (Wernicke).

       Unterschiedliche Sprachen besitzen nicht jeweils einen eigenen Ort im Gehirn, sondern befinden sich in einzelnen Zell-Netzwerken innerhalb der bekannten Sprachbereiche im Gehirn.

       Bezogen auf wiederkehrende Muster beim Verlust und der Wiedererlangung (Restitution) verschiedener Sprachen gibt es fünf Muster:

       Parallele Restitution: Die Sprachen sind im gleichen Ausmaß gestört und werden gleichmäßig wiedererlangt.

       Differentielle Restitution: Die Sprachen sind in unterschiedlichem Maße gestört, aber die Wiedererlangung vollzieht sich dennoch in allen Sprachen.

       Sukzessive Restitution: Die Sprachen werden nacheinander wiedererworben.

       Selektive Restitution: Eine oder mehrere Sprachen bleiben dauerhaft gestört, während eine andere Sprache wiedererlangt wird.

       Antagonistische Restitution: Durch die Restitution einer Sprache verschlechtert sich eine andere.

      1.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

      1 Beschreiben Sie die Struktur des Gehirns. Welche Bereiche sind für die Sprachverarbeitung zuständig?

      2 Wie sind mehrere Sprachen im Gehirn dargestellt? Welche Untersuchungsergebnisse sprechen dafür?

      3 Welche Arten der Aphasie und der Wiedererlangung der Sprache


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