Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche


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und Hillyard (1983) haben zuerst gezeigt, dass morphosyntaktische Verstöße andere ERP-Komponenten hervorrufen als semantische Verstöße. Ihre Studie umfasste sowohl semantische Anomalien als auch deplatzierte finite und infinite Verben. Die semantischen Anomalien erzeugten ein N400, wohingegen alle morphosyntaktischen Anomalien frontal zentral negativ bei 300–400 Millisekunden und rückwärtig positiv bei 300 Millisekunden nach Beginn auftraten. Sie leiten daraus ab, dass Semantik und Syntax über separate neurale Verarbeitungssysteme gesteuert werden. Aber es ist auch denkbar, dass diese Annahme schlichtweg die vorherrschenden Sprachtheorien dieser Zeit wiederspiegelt, in denen strikt zwischen Syntax und Semantik getrennt wurde.

      Die ermittelte spät positive Reaktion erreicht bei syntaktischen Verstößen bei 600 Millisekunden nach Beginn ihren Höhepunkt, beginnt bei 500 Millisekunden und dauert bis zu 800 oder 1000 Millisekunden an. Am deutlichsten wird sie auf der Rückseite des Kopfes sichtbar (vergleiche 1.5). Osterhout & Holcomb (1992) bezeichneten dies zuerst als einen syntaktischen Effekt und nannten es den P600-Effekt. Der P600-Effekt wird von einer Vielzahl syntaktischer Verstöße ausgelöst. Dazu gehören morphosyntaktische Verstöße und Verstöße gegen die Kategorienerwartung. In einem Satz wie Der Cowboy hat sein Pferd reiten muss der Leser oder die Leserin die falsche Zeit des Verbs korrigieren und den Satz neu analysieren, um die verarbeiteten Informationen zu verstehen. Das zeigt sich im größeren positiven Ausschlag bei 600 Millisekunden für reiten im Vergleich zur korrekten Zeitform geritten. Außer bei syntaktischen Verstößen wurde der P600-Effekt auch als Reaktion auf grammatikalisch korrekte Sätze mit unterschiedlicher Komplexität gemessen (Kaan, Harris, Gibson & Holcomb 2000).

      

Abbildung 1.5:

      ERP-Wellenformen nach Loerts, Stowe & Schmid (2013: 573)

      Abbildung 1.5 zeigt Wellenformen ereigniskorrelierter Hirnpotentiale als Reaktion auf ein Zielwort, das innerhalb eines Satzes semantisch und grammatikalisch korrekt war (die schwarze Linie), und auf das Wort, als es semantisch und grammatikalisch nicht vollständig korrekt war. Die X-Achse zeigt die Latenzzeit in Millisekunden nach dem Beginn des Wortes und die Y-Achse zeigt die Höhe der Mikrovolt, die zu den bestimmten Zeitpunkten gemessen wurden. Beachten Sie, dass positiv nach unten und negativ nach oben ausgerichtet ist. Aus unbekannten Gründen ist dies in der Forschung so üblich.

      Die räumliche Auflösung in ereigniskorrelierten Hirnpotentialen ist mangelhaft, ihre zeitliche Auflösung nach Millisekunden ist jedoch hervorragend. Deshalb ist das ERP-Verfahren eine erprobte und verlässliche Messmethode der Sprachverarbeitung in Echtzeit. Einige Forscher und Forscherinnen bevorzugen die Magnetenzephalographie (MEG) anstelle der Elektroenzephalographie. Ein Magnetenzephalograph misst magnetische Felder, die von elektrischen Strömungen im Gehirn produziert werden. Das magnetische Feld wird in Reaktion auf so genannte Events von Hunderten Sensoren in einem helmartigen Scanner gemessen, der um den Kopf des Probanden oder der Probandin herum aufgebaut wird. Der Magnetenzephalograph ähnelt dem Elektroenzephalographen, ermöglicht jedoch eine bessere Lokalisierung der Quelle, da die magnetischen Felder nicht so sehr vom Schädel verzerrt werden wie die elektrische Aktivität, die vom Elektroenzephalographen gemessen wird. Ein Nachteil des Magnetenzephalographen ist, dass er nur neurale Strömungen erkennen kann, die parallel zur Oberfläche des Schädels fließen.

      Bei der Verwendung von Wann-Verfahren in der Zwei- und Mehrsprachigkeitsforschung wird hauptsächlich der Frage nachgegangen, ob bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieselben Reaktionen und dieselben zeitlichen Abläufe und Ausschläge der Reaktionen in ihrer Zweitsprache messbar sind wie bei einsprachigen Personen. Ein wichtiger Vorteil dieses Verfahrens ist: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind sich nicht bewusst, dass sie auf bestimmte Aspekte der Sprache und unbewusste Reaktionen auf Verstöße oder Komplexität in der L2 getestet werden. Wenn weder N400-Effekte noch P600-Effekte während der Verarbeitung von semantischen und syntaktischen Verstößen in der Zweitsprache nachgewiesen werden, kann das darauf hindeuten, dass der L2-Lerner den Fehler nicht sieht oder hört. Eine verspäteter N400- oder P600-Effekt könnte auf langsamere Verarbeitung hindeuten und ein geringerer Ausschlag des N400- oder P600-Effekts könnte eine weniger genaue Verarbeitung der Verstöße oder Komplexität in der L2 widerspiegeln.

      Der Großteil der Forschung bis heute hat gezeigt, dass fortgeschrittene L2-Lerner in der Lage sind, semantische Aspekte in ihrer Zweitsprache zu verarbeiten (wie in N400-Effekten (verspätet) abgebildet). Es scheint allerdings insbesondere für ältere Lerner schwierig zu sein, syntaktische Eigenschaften in der L2 ähnlich wie in der Muttersprache zu verarbeiten. Einige Studien zeigen keine P600-Effekte als Reaktion auf syntaktische Verstöße in der L2, was darauf hindeuten könnte, dass die L2-Lerner den Fehler nicht bewusst bemerkt und verarbeitet haben. Andere wiederum zeigen eine verzögerte oder abgeschwächte P600-Reaktion bei L2-Sprechern: Das ist ein Hinweis auf eine weniger detailgenaue Verarbeitung der syntaktischen Verstöße in der L2 (vergleiche die Übersicht von van Hell & Tokowicz 2010).

      Das Vorhandensein oder das Fehlen von P600-Effekten könnte in Verbindung mit Ähnlichkeiten zwischen der L1 und der L2 stehen, aber auch mit der Kompetenzstufe (Loerts 2012). Eine interessante Longitudinalstudie zu ereigniskorrelierten Hirnpotentialen untersuchte die Gehirnaktivierung als Reaktion auf syntaktische Strukturen der L2, während die Lerner im Verlauf des ersten Jahres formalen Unterrichts an der Universität in der L2 Französisch Fortschritte erzielten (McLaughlin, Tanner, Pitkänen, Frenck-Mestre, Inoue, Valentine & Osterhout 2010). Aufgrund der Daten konnte man darauf schließen, dass die Lerner zu Beginn grammatikalische Fehler als lexikalische Einheiten verarbeiten. Dabei zeigten sich N400-Effekte als Reaktion auf einen Regelverstoß nach vier Wochen Unterricht in der L2 Französisch. Während der zweiten Testphase und nach ungefähr 16 Wochen Unterricht traten bei einigen immer noch N400-Effekte auf, wohingegen bei anderen eine verzögerte Reaktion auf Regelverstöße ähnlich wie in der Muttersprache zu beobachten war (erkennbar in Form von kleinen P600-Effekten). Während der dritten Phase und nach 26 Wochen Unterricht war bei den meisten Studentinnen und Studenten verlässlich eintretende P600-Effekte nachweisbar, die auf muttersprachenähnliche Verarbeitung, Korrektur oder Neuanalyse syntaktischer Verstöße hindeuten. Die Autoren vermuteten, dass die Abweichungen in der zweiten Phase auf Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit hindeuten.

      Wo-Verfahren, die hämodynamische Aktivität verwenden

      Da Elektroenzephalographen und Magnetenzephalographen nicht sehr nützlich für die Lokalisierung von Aktivität sind, können Wo-Verfahren verwendet werden, um Fragen hinsichtlich der Aktivierung spezifischer Regionen im Gehirn zu beantworten. Das bekannteste Wo-Verfahren ist die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI). Diese Methode verwendet die MRI-Technologie, bezieht aber die Tatsache mit ein, dass Blut in einen bestimmten Teil des Gehirns fließt, wenn Gruppen von Neuronen in diesem Bereich aktiv werden (zum Beispiel wenn dieser Teil genutzt wird, um auf einen speziellen Stimulus wie ein Geräusch, ein Bild oder einen Film zu reagieren). In unserem Blut befindet sich Eisen und wenn frisches Blut fließt, dann verzerrt das Eisen das magnetische Feld. Ein fMRI-Scanner kann dies aufzeichnen. Genauer gesagt findet eine Veränderung im Blutfluss statt, wenn Neuronen in einem bestimmten Gebiet des Gehirns kommunizieren. Dabei wird Sauerstoff absorbiert und das Blut desoxidiert. In Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie wird das Verhältnis zwischen oxidiertem (mit Sauerstoff angereicherten) und desoxidiertem Hämoglobin im Blut gemessen. Dieser BOLD-Kontrast, der blood oxygenation level dependent (›Abhängigkeit vom Blutsauerstoffgehalt‹) wird mit dem fMRI-Gerät gemessen. Während ein strukturelles MRI aus mehreren Momentaufnahmen besteht, wird ein fMRI verwendet, um einen Film davon zu produzieren, was im Gehirn während der Verarbeitung von (linguistischen) Stimuli passiert.

      Eine weitere Technik zur Untersuchung, welche Regionen während der Verarbeitung spezieller Stimuli aktiv sind, ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Im Gegensatz zur funktionellen Magnetresonanztomographie setzt die Positronen-Emissions-Tomographie die Injektion einer kleinen Menge Flüssigkeit mit einem radioaktiven Element in den Blutkreislauf voraus. Diese injizierte Substanz sammelt sich in den Gehirnregionen an, die abhängig von der in sie einfließenden Blutmenge sind. Dies wird wiederum


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