Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb. Группа авторов
gut seien. Für die deutsche Sprache sinkt die Zahl auf 35 % und für Französisch sind es nur noch etwa 20 %. Ob diese Umfragen repräsentativ sind, bleibt anzuzweifeln.
Weiterhin gilt es zu bedenken, ob ein Unterschied zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit gemacht werden sollte. De Bot und Jaensch (2015) haben unterschiedliche Studien dazu analysiert (linguistische, neurolinguistische, psycholinguistische) und festgestellt, dass die Behauptung, dass sich Sprachverarbeitung bei Zweisprachigen im Vergleich zu Mehrsprachigen fundamental unterscheide, empirisch nicht belegt ist. Nachfolgend werden wir immer die Bezeichnung Mehrsprachigkeit verwenden, wenn wir uns auf mehr als eine Sprache beziehen. Zur Abgrenzung der Sprachen benutzen wir die Abkürzung L1 für die chronologisch als erste gelernte Sprache und L2 für alle anderen.
1.1.2 Grundlagen der psycholinguistischen Modellierung von Mehrsprachigkeit
Das Thema Mehrsprachigkeit wird häufig im Rahmen einer der folgenden Typologien behandelt (vergleiche dazu Bausch, Christ & Krumm 2007: 439ff):
(1) Chronologie und Lebensalter des Erwerbs:simultan oder sukzessivfrüh oder spät erworbene Mehrsprachigkeit
(2) Domänenspezifische Fertigkeiten und Kompetenzen:rezeptive oder produktive KompetenzenKompetenzen in Teilfertigkeiten
(3) Einfluss verschiedener Schwellen:bildungs- versus alltagssprachliche Ausprägung der SprachkompetenzSemilingualität bei Nichterreichen der untersten Schwelle
(4) Stärke der Ausprägung der beteiligten Sprachen:stark oder schwachdominant oder nicht dominantadditiv oder subtraktivsymmetrisch, asymmetrisch oder ausgeglichen
(5) Organisation:kombiniertkoordiniert } den Kontrast zur Erstsprachesubordiniert
Bemerkenswert an diesen traditionellen Klassifizierungen ist, dass sie sich primär an externen (Alter, Strukturen der Sprachen) und globalen Kriterien der Kompetenzmessung und -organisation (Stärke, Organisation, Schwellen) orientieren und dabei nur am Rande auf die Qualität, Intensität und Dynamik der Mehrsprachigkeit und des Sprachenerwerbs Bezug nehmen (vergleiche Lanza 2009). Die Phase der frühen Mehrsprachigkeit ist dabei dominant in der Forschung vertreten, weil angenommen wird, dass man hier den Sprachenerwerb mit den geringsten Beeinflussungen beobachten und die Entwicklungen klaren Alterskriterien zuordnen kann. Diese Phase stellt trotz der Natürlichkeit der Bedingungen eigene Herausforderungen an die Forschung: Sprachliche und kognitive Entwicklung sind stark miteinander verwoben. Die Bedingungen der frühen mehrsprachigen Entwicklung sind daher nicht ohne weiteres auf den Sprachenerwerb allgemein zu übertragen. Eine der Kernfragen der Mehrsprachigkeitsforschung, nämlich wie die Sprachen untereinander organisiert oder voneinander getrennt sind und wie Hybridbildungen entstehen oder verhindert werden, lässt sich aus diesem Grund bisher nicht eindeutig beantworten.
1.1.3 Frühe Mehrsprachigkeit
Von den Modellen, die sich an Alter und Chronologie des Mehrsprachigkeitserwerbs orientieren und seine frühen Phasen in den Blick nehmen, ist die Unitary-Language Hypothese eine der einflussreichsten Vertreterinnen. In dem Modell beschreiben Volterra und Taeschner (1978) den kindlichen doppelten Erstsprachenerwerb als dreiphasiges Modell eines gemeinsamen Sprachensystems (siehe auch Redlinger & Park 1980):
In the first stage the child has one lexical system which includes words from both languages. A word in one language almost does not have a corresponding word with the same meaning in the other language. […] As a result, words from both languages frequently occur together in two- to three-word-constructions. (Volterra & Taeschner 1978: 312)
In der ersten Phase, welche die Zeit vom Sprechbeginn (den ersten Lauten) bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren umfasst, besitzt das Kind demnach ein einziges syntaktisches und lexikalisches System, das Elemente beider Sprachen beinhaltet. Die Phase zeichnet sich durch das Fehlen (oder nur in einer sehr begrenzten Zahl anwesender) intersprachlicher Äquivalente aus. Als Äquivalente werden solche Wörter bezeichnet, die eine identische Bedeutung haben, wie zum Beispiel deutsch Oma und italienisch nonna. Eine weitere Beobachtung, die Volterra und Taeschner (1978) als Beleg für ein eindeutig fusioniertes Lexikon werten, ist die unterschiedliche Häufigkeit von Äquivalenten in den beiden Sprachen. So ist es im Fall ihrer Tochter, bei der deutsch ja eine wesentlich höhere Frequenz aufweist als das italienische si. Auch gemischtsprachige Äußerungen, wie macchina kaputt – auto rotto, interpretieren die Autorinnen als Beleg für ein fusioniertes Lexikon. Eine alternative Sichtweise, der zufolge sich die Dominanz einer Sprache aufgrund funktionaler Bedingungen der Sprachenumgebung ergibt (Hauptsprachen der Bezugspersonen, Interessen, Kontexte), wird in der Studie nicht behandelt.
Mit dem Erwerb der ersten Synonyme beginnt nach Volterra und Taeschner (1978) die zweite Phase, nämlich die der Trennung der beiden lexikalischen Systeme. Kennzeichnend für diese vielschichtige Phase ist die zunehmende Etablierung zweier getrennter lexikalischer Systeme. Das Kind ist in der Lage, zwischen zwei Systemen zu unterscheiden, wobei es aber dieselben grammatikalischen Regeln auf beide anwendet. Es kann aber nicht immer eindeutig bestimmt werden, ob das Kind die Regeln von der L1 oder die von der L2 verwendet. Vielmehr zeigt sich, dass das Kind eigene Regeln schafft, die es für beide Sprachen gebraucht. Das Kind beginnt demnach zu unterscheiden, dass es für dieselben Objekte und Ereignisse ein Wort in der einen Sprache und ein Synonym in der anderen gibt. Sprachenmischungen treten in dieser Phase dennoch auf.
Die dritte Phase ist laut Volterra und Taeschner (1978) durch die Existenz von zwei syntaktischen Systemen charakterisiert. Hier vollzieht sich die Trennung der zwei Sprachen des bilingualen Kindes. Das Kind ist in der Lage, zwischen beiden Sprachen vollständig zu unterscheiden, sowohl in lexikalischer als auch in syntaktischer Hinsicht. Dabei nimmt die Komplexität der Syntax mit dem Erwerb zu. Die sprachspezifischen Konzepte von Satzkonstruktionen lassen sich in dieser Phase zum Beispiel in der Sequenz Artikel, Adjektiv und Substantiv in ein schönes Haus versus Artikel, Substantiv und Adjektiv in un sole giallo im Italienischen beobachten. Nach Volterra und Taeschner (1978: 312) ist das Kind erst am Ende der dritten Phase als wirklich zweisprachig zu bezeichnen, da es dann in der Lage sei, die Sprachen unabhängig von seinen jeweiligen Kommunikationspartnern zu benutzen. Die Beobachtungen von Volterra und Taeschner sind nicht ohne Nachfolger geblieben.
So geht auch Romaine (1995: 190) davon aus, dass Kinder, die gleichzeitig zweisprachig aufwachsen, am Anfang ein gemischtes (hybrides) Lexikon besitzen. Die Trennung der Sprachensysteme erfolge erst im Alter von circa zweieinhalb bis drei Jahren. Ein Kind steht demnach nicht nur vor der Herausforderung, die Sprachensysteme zu erwerben, sondern es muss vor allem lernen, seine beiden Sprachen getrennt verwenden zu können (pragmatische Kompetenz der language separation). Im Gegensatz zu diesem Modell geht Grosjean (1982) davon aus, dass das zweisprachige Kind anfänglich zwar ein einziges Regelsystem besitzt, dieses sich aber aus den Regeln der beiden Sprachen (additiv statt unitaristisch) zusammensetzt. Diese seien bereits verknüpft (vergleiche Grosjean 1982: 183). Eine genaue Unterscheidung, also die Separierung der Systeme dieser Sprachen trete demzufolge erst im Laufe der Entwicklung ein. Die dadurch entstehenden Sprachenmischungen im Sinne eines bilingualen Modus (bilingual mode) sind somit ein entwicklungsgemäßes Kennzeichen frühkindlicher Zweisprachigkeit. Dieser Standpunkt wird unter anderem auch von Kielhöfer und Jonekeit (1983: 65) übernommen, die die gemischten Sprachenelemente als naive Sprachenmischungen in der ersten Phase der Sprachenerwerbsentwicklung darstellen. Dass zweisprachige Kinder tatsächlich bereits in der Einwortphase (2. Lebensjahr) mit zwei Lexika operieren, zeigen weitere Untersuchungen (etwa Genesee 1989; Meisel 1989). Die wenigen Äquivalente, die in diesem Erwerbsabschnitt in beiden Sprachen anzutreffen sind, werden demnach als ein Beleg dafür gewertet, dass die Sprachen separat von Anfang an erworben werden und nicht aus einem hybriden Zustand entstehen. Diese Äquivalente zeigen, dass die Sprachen kommunikationsbezogen (komplementär) erworben und nicht parallel in allen Lebenssituationen gebraucht werden. Bereits in der lexikalischen Phase beginnt das Kind, die Laute der beiden Sprachen zu unterscheiden. Außerdem zeigt sich, dass beim Erscheinen der ersten Wortbildungen die morphologische Trennung der Systeme weitestgehend glückt, denn die zusammengesetzten Elemente stammen jeweils aus der gleichen Sprache und werden nicht interlingual