Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb. Группа авторов

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Im weiteren Verlauf der Studie erzählten sie den Probanden die Geschichte von einer Erdnuss, die sich verliebt. Nachdem sie diese Geschichte angehört hatten, verschwanden die N400-Effekte, was zeigt, dass die grundlegenden semantischen Aspekte von Wörtern durch Informationsvermittlung verändert werden können.

      Traditionelle Modelle setzen Sprachkompetenz als inhärent, stabil und statisch voraus. Man könnte sagen, dass Zeit bei diesen Modellen keine Rolle spielt. Zeit vergeht während der Verarbeitung im System unter sehr strengen Vorgaben dazu, welche Elemente in einem bestimmten Moment in der Zeit zur Verfügung stehen sollten. Im Produktionsmodell bei Levelt (1999, siehe auch Lerneinheit 4.1 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) werden zum Beispiel Konstruktionen durch die Aktivierung einer gewissen Anzahl an Vorgängen gebildet, so wie der Abgleich von Ergänzungen mit Verben (Subjekt und Objekt für transitive Verben und indirekte Objekte). Die Aktivierung der Wortform, die in den Slot einer Konstruktion passt, muss genau rechtzeitig stattfinden. Wenn ein Wort zu spät ankommt, bleibt der Slot leer und der Satz muss neu konstruiert werden. Zeit spielt dort bei den Repräsentationen und den Prozessen keine Rolle, da diese statisch sind, wenn sie einmal gebildet wurden. Wörter werden mehr oder weniger wie Bücher in einer Bibliothek wahrgenommen, sie werden herausgenommen und eingefügt. Wie wir später sehen werden, funktioniert diese Metapher einer Bibliothek bei einer dynamischen Auffassung von Sprache nicht. Wie die Theorie dynamischer Systeme (dynamic system theory) (siehe Lerneinheit 4.1) zeigt, ist die Auffassung von Sprachkompetenz als komplexes adaptives System dem Beschreibungsgegenstand angemessener (vergleiche die Diskussion bei Lowie & Verspoor 2011).

      1.1.7 Zusammenfassung

       Grundlegende Annahmen des Ansatzes zur Informationsverarbeitung, in denen unsere derzeitigen Modelle der mehrsprachigen Verarbeitung verankert sind, müssen überprüft werden.

       Es müssen Modelle, welche die dynamische Perspektive berücksichtigen, in der Zeit und Veränderung die Kernfragen darstellen, entwickelt werden.

       Auf Dynamik basierende Modelle sollten folgende Aspekte beinhalten:Berücksichtigung der Zeit als Kerneigenschaft: Sprachverwendung findet auf unterschiedlichen, aber miteinander interagierenden Zeitskalen statt.Berücksichtigung von Repräsentationen, die nicht unveränderlich, sondern veränderbar und episodisch sind.Berücksichtigung von Feedback- und Feedforward-Informationen anstelle eines strikt inkrementellen Prozesses.Anerkennen, dass Sprachverwendung verteilt, situativ und verkörpert ist; deshalb sollten linguistische Elemente nicht in Isolation betrachtet werden, sondern in Interaktion mit den größeren Einheiten, derer sie Teil sind.Anerkennen, dass Interaktion anstelle des Monologs der Schwerpunkt der Forschung ist.

      1.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle

      1 Welche Faktoren erwähnt Poulisse in ihrer Beschreibung des Fremdsprachenlerners als mehrsprachigen Sprecher oder mehrsprachiger Sprecherin, die bei einem mehrsprachigen Modell berücksichtigt werden müssen? Nennen und erläutern Sie diese.

      2 Was versteht man unter der Subset-Hypothese?

      3 Was sind die wesentlichen Kritikpunkte traditioneller Modelle?

      4 Wodurch sind auf Dynamik basierende Modelle gekennzeichnet?

      1.2 Historische und kommunikative Aspekte

      Jala Garibova (übersetzt von Simone Lackerbauer)

      In der ersten Lerneinheit haben Sie bereits einen guten Eindruck gewinnen können, dass die Ambiguität in der Definition der Mehrsprachigkeit unter anderem mit dem zugrundeliegenden Bild von Sprache zu tun hat, das sich von einem statischen hin zu einem dynamischen und fragmentierten entwickelt (vergleiche auch Blommaert 2010: 197). Wie in Lerneinheit 1.1 gezeigt wurde, wird Sprache nicht länger als ein abstraktes System struktureller Regeln, Vokabeln und Lauten, sondern vielmehr als eine dynamische Ressource, die unterschiedliche kontextgebundene Bedürfnisse und Funktionen ihrer Nutzer und Nutzerinnen bedient, wahrgenommen. Dieser Wandel wirft eine Reihe von Fragen auf, die sich hauptsächlich damit beschäftigen, welche Art von Sprachverwendung und welche Stufe der Sprachkompetenz einen Sprecher oder eine Sprecherin mehrsprachig machen. Wie hoch sollte die Kompetenzstufe in der zweiten oder fremden Sprache sein, um jemanden als mehrsprachig einzustufen? Welche Aspekte der Sprachkompetenz sind ausschlaggebend? Um diese und weitere Fragen zu klären, werden wir uns nun mit dem Wesen der Mehrsprachigkeit, ihren Ausprägungen, ihren Determinanten und ihrer historischen Betrachtung beschäftigen.

      Lernziele

      In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

       die verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sowie Kriterien zu deren Bestimmung benennen können;

       eigene Bestimmungen von mehrsprachigen Individuen, mehrsprachigen Gemeinschaften und mehrsprachigen Gesellschaften formulieren und begründen können;

       die grundlegende kommunikative Funktion von Mehrsprachigkeit erkennen;

       die historischen und globalen Einflüsse, die auf Mehrsprachigkeit einwirken, bestimmen können.

      1.2.1 Zur Entstehung von Mehrsprachigkeit

      Während wir uns bisher mit den kognitiven und psycholinguistischen Aspekten der individuellen Mehrsprachigkeit beschäftigt haben, möchten wir das Phänomen nun auch aus den Perspektiven der Entwicklung, der Funktion und des Verhaltens von Mehrsprachigkeit beziehungsweise Mehrsprachigen behandeln. Mehrsprachigkeit ist normalerweise eine Antwort auf eine konkrete Kommunikationssituation. Menschen werden zunächst aus pragmatischen Gründen mehrsprachig. Sie erlernen eine Sprache oder Varietät, weil diese bestimmten Funktionen erfüllt, welche von den ihnen bereits verfügbaren Sprachen und Varietäten nicht erfüllt werden. Natürlich ist diese Wahl oft durch politische Prioritäten (zum Beispiel eine offizielle Landessprache zu erlernen), ökonomische Überlegungen (zum Beispiel eine Sprache zur Sicherung besserer Arbeitsbedingungen zu erlernen), oder soziokulturelle Motive (zum Beispiel eine im Bildungswesen vorherrschende Sprache, eine weitläufig gebräuchliche Alltagssprache, oder eine kulturell hochangesehene Sprache zu erlernen) motiviert. Mehrsprachigkeit kann jedoch auch aus anderen Gründen entstehen, etwa aus ästhetischen Überlegungen (einer Sprache verfallen) oder als Ausdruck von Identität, Mode, sozialer Marker etc. Umfragen an der Azerbaijan University of Languages in Baku haben ergeben, dass viele Studenten und Studentinnen die italienische Sprache als Wahlpflichtmodul nur deshalb auswählen, weil ihnen der Klang des Italienischen gefällt. Andere Menschen in Aserbaidschan perfektionieren ihr Türkisch, weil sie sich mit der gesamttürkischen Welt eher identifizieren, als mit Aserbaidschan als einem Teil der türkischen Welt.

      1.2.2 Formen von Mehrsprachigkeit

      Bisher haben wir Mehrsprachigkeit nur auf eine Person bezogen, aber innerlich haben Sie als Leserin oder Leser sicher schon protestiert, dass es damit nicht getan sein kann. Schließlich hat Mehrsprachigkeit viel mehr Formen. Es gibt zum Beispiel Gruppen, die innerhalb einer Stadt oder sogar eines Staates eine eigene Sprache sprechen oder die vielen mehrsprachigen Staaten, die schon einmal ein halbes Dutzend Landessprachen haben können. Deshalb unterscheidet man in der Mehrsprachigkeitsforschung drei verschiedene Typen von Mehrsprachigkeit: individuelle Mehrsprachigkeit, territoriale oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und institutionelle Mehrsprachigkeit (vergleiche Lüdi & Py 1984: 4). In der ersten Lerneinheit in diesem Band haben wir uns auf die individuelle Mehrsprachigkeitindividuelle Mehrsprachigkeit konzentriert, die üblicherweise als die Fähigkeit einer Person verstanden wird, mehr als eine Sprache auf einer gewissen Kompetenzstufe zu beherrschen.

      Territoriale oder gesellschaftliche MehrsprachigkeitTerritoriale oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit bezieht sich hingegen stets auf mehrsprachige Gesellschaften, wobei Riehl (2013a) hier verschiedene Formen zur Unterscheidung aufführt:

       mehrsprachige Staaten mit Territorialprinzip

       mehrsprachige


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