Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb. Группа авторов
Staaten mit Minderheitsregionen
Städtische Immigrantengruppen
Von einem mehrsprachigen Staat mit TerritorialprinzipTerritorialprinzip sprechen wir dann, wenn es sich um einen Staat handelt, der in mehrere Sprachgebiete eingeteilt ist (Territorialprinzip). Wie aus Abbildung 1.3 hervorgeht, ist hierfür die Schweiz ein gutes Beispiel, da sie als Staat vier Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) besitzt und diese auf unterschiedliche Regionen im Land verteilt sind:
Abbildung 1.3:
Die Schweiz als mehrsprachiger Staat mit Territorialprinzip (FDFA, PRS 2015)
Ein anderer Fall von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit liegt beispielsweise in vielen Ländern Afrikas vor. Hier spricht man von mehrsprachigen Staaten mit individueller Mehrsprachigkeit. In Namibia beispielsweise (siehe Abbildung 1.4) ist zwar seit der Unabhängigkeit Englisch die offizielle Amtssprache, allerdings gibt es einen großen deutschsprachigen Anteil in der Bevölkerung und auch das Afrikaans ist immer noch als Lingua Franca allgegenwärtig. Die Muttersprachen der verschiedenen ethnischen Gruppen hingegen sind nur in den ersten Schuljahren der Elementarausbildung zu finden (weitere Informationen zu den verschiedenen Muttersprachen finden Sie auch im Ethnologue Projekt von Simons und Fennig (2017), das Sie im Netz unter www.ethnologue.com aufrufen können). Im Gegensatz zum Territorialprinzip sind die Sprachen in diesem Fall nicht auf unterschiedliche Regionen aufgeteilt, sondern im ganzen Land allgegenwärtig, denn hier spricht nahezu jeder mehrere Sprachen (daher individuelle Mehrsprachigkeit, siehe Riehl 2013a).
Abbildung 1.4:
Namibia als mehrsprachiger Staat mit individueller Mehrsprachigkeit (Digi-tal.ch 2007)
Die nächste Form von mehrsprachigen Gesellschaften, die wir uns ansehen wollen, sind einsprachige Staaten mit Minderheitsregionen. Dieses Phänomen kennt zweierlei Formen: Grenzminderheiten und isolierte Minderheiten. Grenzminderheiten sind beispielsweise Gemeinden, die außerhalb des eigentlichen Sprachraums, aber in unmittelbarer Nähe dazu, zu finden sind. Deutsche Grenzminderheiten gibt es in Südtirol, Ostbelgien, Dänemark und im Elsass. Isolierte Minderheiten hingegen, befinden sich nicht unbedingt an einer Grenze. Auch hier müssen wir wieder genauer unterscheiden. Zum einen gibt es die Minderheiten, die in nur einem Staat existieren wie das Bretonische, das es nur in Frankreich gibt. Zum anderen gibt es Sprachminderheiten, die in mehreren Staaten eine Minderheit darstellen, wie zum Beispiel die Basken. Und zuletzt gibt es noch die Minderheiten, deren Sprache in einem anderen Staat die Mehrheit bildet, wie zum Beispiel die vielen deutschen Sprachinseln, die es auf der ganzen Welt gibt, zum Beispiel in Italien, Russland, Australien oder in den USA.
Oft tritt Mehrsprachigkeit auch in Ballungszentren auf, in denen verschiedene Gemeinschaften zusammenleben und zusammenwirken. Gruppen von Einwanderern tragen üblicherweise zur Mehrsprachigkeit in großen Städten bei. Die städtischen Migranten siedeln häufig im gleichen Bezirk einer Stadt und sind Zwei- oder Mehrsprachensprecher und -sprecherinnen, weil sie die vorherrschenden Mehrheitssprachen erlernen müssen. Wenn, meistens in Großstädten, intellektuelle und kulturelle Eliten aufeinandertreffen, können wir jedoch auch eine andere Form von Mehrsprachigkeit beobachten – nämlich die Kombination der Mehrheitssprache mit internationalen Sprachen. Ein bekanntes Beispiel städtischer Migranten ist der New Yorker Stadtteil Chinatown, mit der größten chinesischen Gemeinschaft in Nordamerika.
Neben der individuellen und der territorialen Mehrsprachigkeit wollen wir nun noch auf die institutionelle Mehrsprachigkeitinstitutionelle Mehrsprachigkeit eingehen. Institutionelle Mehrsprachigkeit bedeutet, dass der Staat die Mehrsprachigkeit seiner Bürger gesetzlich anerkennt und diesen auch die Einsprachigkeit gewährt. Das bedeutet, dass in den staatlichen Institutionen mehrere Sprachen vertreten sind und die Bürger und Bürgerinnen sich in ihrer jeweiligen Sprache an sie wenden können. Dieses Phänomen ist vor allem dort zu finden, wo die Mehrheit der Bevölkerung eine andere Sprache als die Landessprache spricht.
1.2.3 Die Arbeitsteilung der Sprachen
Wenn mehrere Sprachen oder Varietäten innerhalb derselben Gemeinschaft koexistieren, hat meistens eine der Varietäten den offiziellen Status inne und erfüllt formale Aufgaben, während die anderen üblicherweise in informellen Bereichen zu finden sind. Das bedeutet, dass nicht jede Sprache in allen Situationen gleich verwendet wird, da sie sich auf unterschiedliche Domänen aufteilen. Hier spricht man auch von der Arbeitsteilung der Sprachen oder von DiglossieDiglossie (nach Ferguson 1959, siehe auch Riehl 2013a). Die Varietät mit dem offiziellen Status, die im formellen Kontext verwendet wird (beispielsweise im Bildungswesen, am Arbeitsplatz, in der institutionellen Kommunikation, in der Literatur etc.), wird normalerweise als hochsprachliche H-Varietät (high variety)H-Varietät (high variety) bezeichnet, während die Sprache, die eher in informellen Kontexten zu finden ist, als L-Varietät (low variety)L-Varietät (low variety) bezeichnet wird.
Eine derartige Situation findet sich am Beispiel von Spanisch und Guaraní in Paraguay. Es gibt aber auch das Phänomen der TriglossieTriglossie, wenn drei Sprachen oder Varietäten zusammenwirken, wie zum Beispiel Deutsch, Französisch und Letzeburgisch in Luxemburg. H- und L-Varietäten unterscheiden sich meist nicht nur in den Anwendungsbereichen und ihren Funktionen, sondern auch im Prestige, im Grad der Standardisierung und oft auch in der Art des Erwerbs, denn in der Regel ist die L-Varietät die Erstsprache (vergleiche Riehl 2013a).
1.2.4 Mehrsprachigkeit und Sprachkompetenz: Wann ist man mehrsprachig?
Wissenschaftler räumen ein, dass Mehrsprachigkeit nicht notwendigerweise das Sprechen mehrerer Sprachen auf demselben Niveau beinhaltet, und dass eine muttersprachenähnliche Kompetenz in mehr als einer Sprache schwer zu erreichen ist (zudem beherrschen wenige ihre Erstsprachen perfekt); aber sie gehen auch davon aus, dass muttersprachenähnliche Kompetenz in mindestens zwei Sprachen zwar selten, jedoch nicht unmöglich ist (vergleiche Cook & Singleton 2014: 3). Andererseits nutzt eine mehrsprachige Person erwiesenermaßen die Sprachen in ihrem Repertoire für unterschiedliche Zwecke, welche die Kompetenzstufe bestimmen, die für diese oder jene Funktion benötigt wird. Die Mehrsprachigkeitsforschung hat eine große Bandbreite an Definitionen hervorgebracht, die zum Teil voller Unzulänglichkeiten und Mehrdeutigkeiten sind (vergleiche Beardsmore 1986: 1ff; Andersson & Boyer 1970: 7ff sowie Skutnabb-Kangas 1981: 82ff; Cook & Singleton 2014: 3ff) und dies sogar innerhalb der Definition einzelner Theoretiker. Beispielsweise zitiert Beardsmore die Definition von Bloomfield, in der ein Gedanke dem nächsten widerspricht:
In […] cases where […] perfect foreign-language learning is not accompanied by loss of the native language, it results in bilingualism, native-like control of two languages. […] Of course one cannot define a degree of perfection at which a good foreign speaker becomes a bilingual: the distinction is relative. (Bloomfield 1935: 55–56, zitiert nach Beardsmore 1986: 1)
Außerdem ist eine der zwei Definitionen von Haugen (1953: 7) recht frei hinsichtlich der Kompetenz, für die er „die Produktion kompletter, bedeutsamer Äußerungen in der anderen Sprache“ vorsieht, während die andere (Haugen 1987: 14) strenge Vorgaben für „muttersprachliche Kompetenz in mehr als einer Sprache“ macht.
Viele Definitionen der Mehrsprachigkeit beruhen auf der uneinheitlichen Bestimmung von Grundbegriffen wie: Kompetenzstufe (ausbalanciert, dominant, passive Mehrsprachigkeit, Semilingualismus, und so weiter), Funktion (aktive Verwendung versus passives Wissen), Alter (frühe versus späte Mehrsprachigkeit), Kontext des Erlernens (natürlicher versus schulischer, oder elitärer versus migrantischer), Haltung (selbst- versus fremdbestimmt), Anwendung (primär versus sekundär), und so weiter (vergleiche Skutnabb-Kangass 1981: 80ff; Beardsmore 1986: 1ff; Chin & Willglesworth 2007: 3ff). Soziolinguistische Bestimmungen berücksichtigen daneben auch Aspekte