Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext. Sara Izzo
ist ähnlich wie bei Sartre auch bei Foucault eine grundsätzliche Revision der intellektuellen Funktionszuschreibung zu beobachten. Was sich bei Sartre als Versuch einer Überwindung des intellektuellen Separatismus ausdrückt, konkretisiert sich bei Foucault als bewusste Zurücknahme der intellektuellen Vormundstellung. Mit dem maßgeblich auf Foucaults Initiative gegründeten Groupe d’information sur les prisons (G.I.P.) und seiner innovativen Form des politischen Engagements gelingt Foucault, wie Gilcher-Holtey zu Recht konstatiert, durch seine Redefinition des Mandates des Intellektuellen eine Abgrenzung im intellektuellen Feld.10 Die Gründung des Groupe d’information sur les prisons, die auch von Jean Genet unterstützt wurde, geht aus einer Verbindung „entre le mouvement issu de Mai et l’univers clos des prisons“ hervor, die eine „épisode charnière dans l’histoire de l’après-Mai“ konstituiert, nämlich „l’instant où s’esquisse une transformation de l’intelligence politique“.11 Die problematische Situation in den Gefängnissen gelangt erst durch die Inhaftierung politischer Aktivisten und Demonstranten in den Fokus des Interesses jener sich transformierenden Intelligenz. Foucaults Konzept des ‚spezifischen Intellektuellen‘, welches sich in der Aktionsform des G.I.P. herauskristallisiert, muss als Reaktion auf das in der Nachkriegszeit insbesondere von Sartre verkörperte und bis dato vorherrschende Modell des universellen Intellektuellen gedeutet werden. Foucault versteht sich nicht mehr als Vermittler von universellen Werten oder von Bewusstsein, sondern beruft sich auf die Experten-Funktion innerhalb eingrenzbarer, umstandsbedingter Kämpfe, wodurch eine tiefgreifende Veränderung für das intellektuelle Selbstverständnis markiert wird. Foucault löst Sartre als intellektuellen Bezugspunkt ab.12 In einem Beitrag zur politischen Funktion des Intellektuellen aus dem Jahre 1976 präzisiert Foucault diesen Wendepunkt für den Linksintellektualismus:
Un nouveau mode de ‚liaison entre la théorie et la pratique‘ s’est établi. Les intellectuels ont pris l’habitude de travailler non pas dans ‚l’universel‘, ‚l’exemplaire‘, le ‚juste-et-le-vrai pour tous‘, mais dans des secteurs déterminés, en des points précis où les situaient soit leurs conditions professionnelles de travail, soit leurs conditions de vie (le logement, l’hôpital, l’asile, le laboratoire, l’université, les rapports familiaux ou sexuels). Ils y ont gagné à coup sûr une conscience beaucoup plus concrète et immédiate des luttes. Et ils ont rencontré là des problèmes qui étaient spécifiques, ‚non universels‘, différents souvent de ceux du prolétariat et des masses.13
Die Gegenüberstellung der beiden Formen intellektuellen Engagements leitet Foucault zudem historisch her. Im Ursprung sei der ‚universelle Intellektuelle‘ mit dem „homme de justice, […] homme de loi“ verwandt, „celui qui, au pouvoir, au despotisme, aux abus, à l’arrogance de la richesse oppose l’universalité de la justice et l’équité d’une loi idéale.“14
Die Funktion des politisch aktiven Intellektuellen nach Foucault charakterisiert sich durch ihre Verflechtung mit einem redefinierten Machtbegriff, wonach Macht in einer netzartigen Struktur das gesamte Gesellschaftssystem zusammenhält. Während der traditionelle Intellektuelle sich für Foucault mittels zweier Kriterien in der Öffentlichkeit behauptet, nämlich „sa position d’intellectuel dans la société bourgeoise, dans le système de la production capitaliste“15 sowie „son propre discours en tant qu’il révélait une certaine vérité, qu’il découvrait des rapports politiques là où l’on n’en percevait pas“16, positioniert sich der Intellektuelle in Reaktion auf Mai ’68 neu:
Or ce que les intellectuels ont découvert depuis la poussée récente, c’est que les masses n’ont pas besoin d’eux pour savoir. Pouvoir qui n’est pas seulement dans les instances supérieures de la censure, mais qui s’enfonce très profondément, très subtilement dans tout le réseau de la société. Eux-mêmes, intellectuels, font partie de ce système de pouvoir, l’idée qu’ils sont les agents de la ‚conscience‘, et du discours fait elle-même partie de ce système. Le rôle de l’intellectuel n’est plus de se placer ‚un peu en avant ou un peu à côté‘ pour dire la vérité muette de tous; c’est plutôt de lutter contre les formes de pouvoir là où il en est à la fois l’objet et l’instrument: dans l’ordre du ‚savoir‘, de la ‚vérité‘, de la ‚conscience‘, du ‚discours‘.17
Das Modell des ‚spezifischen Intellektuellen‘ grenzt sich insofern vom Modell des ‚universellen Intellektuellen‘ ab, als er nicht mehr das Wort für diejenigen ergreift, die dessen nicht mächtig sind, sondern deren Diskursproduktion vielmehr stimuliert. In Foucaults Verständnis obliegt dem Intellektuellen ein Eingreifen in lokale gesellschaftliche Machtkämpfe, und sein politisches Engagement konzentriert sich in erster Linie auf den als Machtzentrum gekennzeichneten Untersuchungsgegenstand des Gefängnisses, womit er an seinen bereits in den Publikationen zum Wahnsinn angelegten Forschungsschwerpunkt der Ausschlussprinzipien normativer Gesellschaftsordnungen anknüpft. In der Handlungsstrategie des G.I.P. werden die daraus resultierenden neuen Zielsetzungen des Intellektuellen konturiert und ein neuer Typ des Engagements geschaffen. Im Nachfolgenden soll aufgezeigt werden, inwieweit Genet sich durch seine Kooperation mit dem G.I.P. dieser intellektuellen Aktionsform nähert.
2.2.2.1 ‚Philosophe-journaliste‘ und ‚poète-journaliste‘?
Wie die erste Broschüre des G.I.P. belegt, intendiert der G.I.P. im Modus einer Diagnostik des nicht Tolerierbaren innerhalb ausgewählter Machtinstanzen verfahrend – „[s]ont intolérables: les tribunaux, les flics, les hôpitaux, les asiles, l’école, le service militaire, la presse, la télé, l’État“1 – die Befreiung des Wortes jener sozial und gesellschaftlich ausgeschlossenen Individuen wie beispielsweise der Gefangenen:
Le GIP (Groupe Information Prison) ne se propose pas de parler pour les détenus des différentes prisons: il se propose au contraire de leur donner la possibilité de parler eux-mêmes, et de dire ce qui se passe dans les prisons. Le but du GIP n’est pas réformiste, nous ne rêvons pas d’une prison idéale: nous souhaitons que les prisonniers puissent dire ce qui est intolérable dans le système de la répression pénale. Nous devons répandre le plus vite possible et le plus largement possible ces révélations faites par les prisonniers mêmes. Seul moyen pour unifier dans une même lutte l’intérieur et l’extérieur de la prison, le combat politique et le combat judiciaire.2
Es lassen sich hier zwei repräsentative Kriterien benennen, anhand welcher sich der Richtungswechsel des Intellektuellen bei Foucault abzeichnet: die Erteilung des Wortes an jene, die davon bislang ausgeschlossen waren, sowie die Informationsproduktion und -vermittlung ausgehend von empirischen Untersuchungen statt auf Basis eines vorgefertigten theoretischen Gerüsts. Durch das Produzieren eines neuen Wissensdiskurses, ausgehend von den Gefangenen selbst, dezentriert der G.I.P. die Funktion seiner Organisatoren, deren Handlungsspielraum dennoch nicht unterschätzt werden darf. Betrachtet man nämlich Aufbau und Struktur jener Fragebögen, die im Rahmen der ersten Untersuchung in den Gefängnissen konzipiert wurden,3 drängt sich der Begriff der Wissenssteuerung auf. Dahinter steht die Taktik, die Informationsverbreitung in eine Kampfstrategie zu transformieren und dadurch eine Gegenstimme zum institutionalisierten Diskurs des Justizapparates und der Medien zu schaffen. Vor diesem Hintergrund zielt Foucault auf den Zugriff auf das Informationssystem ab4 und versteht seine Rolle als Intellektueller mithin als die eines „philosophe-journaliste“5. Wie das Forschungsteam um Philippe Artières eindrücklich schildert, manifestiert sich der G.I.P. durch sein Interesse an der Produktion und Verwaltung eines innovativen politischen Wissens als eine eigene Presseagentur: „Cette attention, qui prend d’abord la forme du questionnaire, fait très vite du GIP une sorte d’agence de presse relative aux conditions d’emprisonnement et à la vie quotidienne en détention.“6 Zeugnis davon legt auch beispielsweise der programmatische Titel eines Artikels von Daniel Defert ab, „Quand l’information est une lutte“7, worin der Autor nicht nur den Mechanismus der Befragungen durch den G.I.P. erläutert, sondern auch jene allgemeine Pressestimme kritisiert, die eine einseitig institutionell ausgerichtete Berichterstattung liefert. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Arbeit des G.I.P. in den Kanon des historisch fundierbaren Projektes einbinden, nämlich „de construire un système de contre-information“8, das Pascal Ory und Jean-François Sirinelli