Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext. Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext - Sara Izzo


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ihrer Studie zur Wirkungschance von Intellektuellen in Ereignis- und Handlungskonstellationen der deutschen und französischen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert unter Bezugnahme auf Max Weber und Pierre Bourdieus Feldtheorie herausstellt,

      problematisieren die Konstellationsanalysen die Rolle des Intellektuellen als Vordenker und Vermittler von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt. Sie rekonstruieren politische Interventionsschemata sowie Distinktions- und Definitionskämpfe um das Mandat des Intellektuellen.1

      Nach Bourdieu besteht eine Interdependenz zwischen der Autonomisierung des literarischen bzw. kulturellen Feldes im 19. Jahrhundert und der Genese des Intellektuellen, nämlich in Form des den Anschluss an soziale und politische Gesellschaftsproblematiken suchenden Schriftstellers oder Künstlers.2 So erklärt er, dass sich auch die Frage nach dem literarischen Engagement erst konkretisiert, nachdem sich die völlige Trennung zwischen Kunst bzw. Literatur und dem sozialen und politischen Bereich der Gesellschaft vollzogen und sich ein autonomes literarisches Feld ausgeprägt hat. Das gesellschaftspolitische Engagement konstituiert somit „eine Erweiterung eines spezifischen kulturellen Handlungsspektrums“3. In diesem Sinn bezeichnet Sartre die Intellektuellen als

      une diversité d’hommes ayant acquis quelque notoriété par des travaux qui relèvent de l’intelligence (science exacte, science appliquée, médecine, littérature, etc.) et qui abusent de cette notoriété pour sortir de leur domaine et critiquer la société et les pouvoirs établis au nom d’une conception globale et dogmatique (vague ou précise, moraliste ou marxiste) de l’homme.4

      Betrachtet man daran anlehnend den Intellektuellen, dessen Begriffsdefinition sich aufgrund seiner historisch, sozial und situativ determinierten Präsenz stets in einem prozessualen Wandel befindet, im vorliegenden Fall als einen Vertreter aus dem literarischen Bereich, der sich unter Berufung auf eine spezifische Auffassung des Menschen oder ein etabliertes Wertesystem als Gesellschaftskritiker engagiert, so erklärt sich, dass sich das literarische Phänomen des Engagements dennoch auf alle Epochen erstrecken kann und somit weiter zurückreicht als bis ins 19. Jahrhundert:

      L’‚engagement‘ est le phénomène littéraire, présent à toutes les époques, par lequel les écrivains donnent des ‚gages‘ à un courant d’opinion, à un parti, ou de manière plus solitaire, s’impliquant par leurs écrits dans les enjeux sociaux et, notamment, politiques.5

      Was hier im übertragenen Sinne als ‚Einsatz‘ bzw. ‚Pfand‘ beschrieben wird, bedeutet im Konkreten den Einsatz des in seiner Domäne erworbenen Prestiges. Eine vermittelnde Stellung zwischen dieser gegensätzlichen Auffassung einer historisch begrenzten und einer überzeitlichen Form des literarischen Engagements eröffnet Benoît Denis, indem er den Terminus der „littérature engagée“ dem für ihn mit der Dreyfus-Affäre einsetzenden 20. Jahrhundert vorbehält, wohingegen er die in jeder Epoche existente gesellschaftskritische und politisch intentionierte Literatur als „littérature d’engagement“ bezeichnet.6 Das literarische Engagement konstituiert insofern eine Sonderform, als der engagierte Schriftsteller das Medium der Literatur nicht unbedingt verlässt, um sich als Gesellschaftskritiker zu engagieren:

      [I]l y a ‚intervention de l’intellectuel‘ lorsqu’un agent, utilisant et mettant en jeu le prestige et la compétence acquis dans un domaine d’activité spécifique et limité (littérature, philosophie, sciences, etc.), s’autorise de cette compétence qu’on lui reconnaît pour produire des avis à caractère général et intervenir dans le débat sociopolitique. La fonction intellectuelle tend dès lors à se superposer aux fonctions traditionnellement dévolues à l’écrivain et à l’écriture. Il s’opère une redistribution des rôles, au terme de laquelle la littérature voit paradoxalement son prestige renforcé (l’écrivain qui fait œuvre d’intellectuel reste un écrivain et c’est ce prestige-là qu’il met en jeu dans son intervention), alors même que sa distance à l’actualité politique et sociale s’accuse encore, puisque l’intellectuel accapare le champ de l’intervention sociopolitique.7

      Auch bei Michel Winock gehören die bereits erworbene gesellschaftliche Anerkennung, die Positionierung in der Öffentlichkeit und die Erweiterung des kulturell spezifischen Handlungsbereichs, die von ihm als „transfert de notoriété“8 bezeichnet wird, zu den Hauptmerkmalen des Intellektuellen,

      der eine Reputation erworben hat oder anerkannte Kompetenzen im kognitiven oder kreativen, wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Bereich besitzt und seinen Status benutzt, öffentlich zu Fragen Stellung zu nehmen, die nicht sein Spezialgebiet, sondern die gesamte politische Gemeinschaft betreffen, der er angehört.9

      Winock begrenzt in seiner Definition das intellektuelle Engagement auf die öffentliche Stellungnahme zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen, wohingegen Sartre das Engagement als Form der Gesellschaftskritik auf der Basis einer philosophisch fundierten Auffassung vom Menschen beschreibt. Julliard/Winock konkretisieren das gesellschaftspolitische Engagement unter Berufung auf die Intentionalität des Engagements in einer weiteren Beschreibung des Intellektuellen als „un homme ou une femme qui, à travers cette activité, entend proposer à la société tout entière une analyse, une direction, une morale que ses travaux antérieurs le qualifient pour élaborer.“10 Orientiert an der Einbindung des intellektuellen Engagements in den gesellschaftspolitischen Kontext unterscheidet Winock in einer idealtypischen Klassifizierung zwischen drei möglichen Interventionsformen, repräsentiert durch den kritischen Intellektuellen, der die politische, rechtliche und religiöse Autorität in Frage stellt, den organischen Intellektuellen, der das etablierte Regime verteidigt, und den parteilichen Intellektuellen, der einem neuen Regime bzw. einer neuen Partei zum Aufstieg verhelfen will.11 Winocks Darstellung der intellektuellen Intervention als öffentliche Stellungnahme setzt zudem eine in der Öffentlichkeit diskutierte Fragestellung oder Thematik oder ein Ereignis voraus, das den Intellektuellen in einen Diskurs involviert, in dem er eine für die Gesellschaft richtungsweisende Perspektive vorzugeben anstrebt. Nach Franzmann handelt es sich um eine Krise des öffentlichen Konsenses, der sich der Intellektuelle mit seinem spezifischen „Krisendiskurs“12 zuwendet.

      Die Interdependenz zwischen Intellektualität und Öffentlichkeit manifestiert sich vor dem Hintergrund öffentlicher Transformationsprozesse. Wie eingangs skizziert, löst Mai ’68 einen Funktionswandel der Intellektuellen aus und repräsentiert einen Bruch mit der Rolle, die sie bislang in der Gesellschaft wahrgenommen haben. Als spezifische Krise des französischen Universitätssystems und damit der französischen Intelligenz beschreiben Ory/Sirinelli das Aufbegehren der Studierenden als „surrection de la jeunesse intellectuelle contre ses pères les plus officiels, mais qui, portée par l’exemple de quelques maîtres bien précis, reçut le ralliement fasciné de plusieurs grands noms de la haute intelligentsia établie“13. Dazu zählen für die beiden Verfasser insbesondere Jean-Paul Sartre, „se situant une fois de plus au centre des tendances intellectuelles du temps“14, und in dessen Folge beispielsweise Michel Foucault, Maurice Clavel und Jean Genet, auch wenn durch diese undifferenzierte Inbezugsetzung zu Sartre deren Wechselbeziehungen und geistiger Austausch nur angedeutet werden:

      Mais un tel raisonnement [celui de Sartre, S.I.], partagé dans les premières années qui suivirent Mai par un Maurice Clavel (1920–1978), un Michel Foucault ou un Jean Genet (1910–1986), pour ne citer que trois personnalités assez représentatives de trois différentes légitimités intellectuels – un ‚journaliste‘, un ‚philosophe‘, un ‚poète‘ – n’était pas sans influer à son tour sur l’œuvre même de ses personnages.15

      Als Trias unterschiedlicher intellektueller Legitimitäten dargestellt, muss zum einen die damit verbundene Differenzierung deren Funktionen im öffentlichen Raum und zum anderen die jeweilige persönliche Entwicklung und Haltung gegenüber der Rolle des Intellektuellen berücksichtigt werden. So betreten Foucault und Genet im Gegensatz zu Sartre in den années 68 zum ersten Mal die politische Bühne, schaffen jedoch jeweils eine Rückbindung an ihr bis dahin veröffentlichtes Werk und theoretisieren ihr Engagement entsprechend ihrem spezifischen Interessenbereich.

      Gilcher-Holtey betrachtet Mai 1968 als soziale Bewegung, deren kognitive Konstitution nicht allein durch eine Universitätskrise determiniert wird.16 In ihrem


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