Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania. Группа авторов

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sie vertraute auf die Tradition der Schrift, um zu bestimmen, was korrekt sein sollte. Daher wurden viele Konsonanten der Schrift auch in die Aussprache wieder neu eingeführt. Auch wurden Varianten, die nicht der schriftlichen Form entsprachen, aus dem korrekten Sprachgebrauch ausgeschlossen (vgl. Rey 2008, 74).

      Doch ist diese Neuorientierung des sprachlichen Vorbilds in Frankreich aufgrund der Trennung Québecs vom Mutterland im Jahr 1763 in Kanada nicht bekannt geworden. In Québec war mit der Zugehörigkeit zum Kolonialreich Englands die Schulbildung zusammengebrochen, so dass die Alphabetisierung auf niedrigem Niveau verblieb; nur 27 % der Frankokanadier sind bis 1849 alphabetisiert (Galarneau 2000, 103).5 Daher erfolgte die Sprachweitergabe größtenteils auf mündlichem Wege. Die kleine gebildete Schicht hingegen war durch die offizielle englische Sprachpolitik einem starken Einfluss des Englischen ausgesetzt. Daher ergab sich ein sehr volkstümliches Französisch mit altertümlichen Formen und einer steigenden Anglisierung der Sprache. Auch waren einzig und allein missionarische Prediger der katholischen Lehre zur sprachlichen Unterrichtung der Québecer Bevölkerung nach Kanada gekommen, die zweifelsohne Anhänger des Ancien Régime und somit gegen die neuen republikanischen Werte waren. Daher hielten diese Sprachlehrer am alten Sprachgebrauch fest und trugen so zu einer Festigung der traditionellen Sprachvarietät bei.

      Im 19. Jahrhundert entwickelt sich das gesprochene Französisch in Kanada sehr deutlich, so dass die neuen Sprechweisen die Aufmerksamkeit einzelner Gebildeter erregen. Neben Anglizismen und Neologismen werden Provinzialismen, Archaismen und Amerindianismen erkannt und zunächst scharf kritisiert, da die gebildete Schicht bestrebt ist, sich an das normative Französisch anzupassen.6 Zugleich nimmt das Bewusstsein über einen starken Einfluss des Englischen zu, der zunehmend als Bedrohung gesehen wird. Eine erste Reaktion auf die Anglizismen und auf Lehnphänomene aus dem Englischen äußert Michel Bibaud 1817 in seiner Kritik in der Zeitschrift L’Aurore:

      Rien ne dépare tant un idiome que les mots et tours barbares qu’on y introduit mal à-propos; et les personnes qui ont à cœur la pureté de leur langue, devraient réprouver de tout leur pouvoir et tourner en ridicule, cette manie d’anglifier le français qui paraît devenir plus générale de jour en jour (zitiert nach Bouchard 2012, 87).

      Derartig wertende Bemerkungen zur Sprache fachen die Sprachkritik an, die sich schließlich an einzelnen Schriften entzündet.

      4.2 Normdiskussion zum Québécois: die Querelle de Thomas Maguire

      Im Jahr 1841 beginnt eine intensive Sprachdiskussion, die durch das Erscheinen des Handbuchs für korrekten Sprachgebrauch des Abbé Thomas Maguire entflammt, dem Manuel des difficultés les plus communes de la langue française, adapté au jeune âge, et suivi d’un recueil de locutions vicieuses, Québec: Fréchette et Compagnie. Bereits der Titel deutet auf eine klare Kritik des Sprachgebrauchs der Québecer Schüler hin. Darin beklagt Maguire vor der Folie der Pariser Norm des Französischen mehrere Kanadismen, v.a. in seinem Anhang: Aussprachevarianten, morphosyntaktische Abweichungen, Neologismen, Anglizismen, Archaismen, Provinzialismen, Fachsprachenübernahmen, populäre Ausdrücke etc. Maguire beabsichtigt, „signaler les erreurs de langage particulières au Canada“ (Maguire im Avertissement, nach Bouchard 2012, 96).

      Doch wird das Handbuch nicht als Ratgeber aufgefasst, sondern vehement kritisiert. Als erste Reaktion weist Abbé Jérôme Demers als anonymer Autor das Manuel und die angeblichen Fehler in La Gazette de Québec am 23.04.1842 zurück (Bouchard 2012, 90). Auf die Antwort von Maguire vom 28.04.1842 erhält er im August 18427 eine erneute Replik von Demers. Auch der Chefredakteur von Le Canadien, Etienne Parent,8 veröffentlicht einen kritischen Kommentar zum Manuel. Später werden die im Handbuch thematisierten Fragen mehrfach in der Zeitschrift L’Encyclopédie canadienne (im Mai, Juni, August und September 1842) kommentiert und verrissen.

      Die angeführten Sprachkritiker gehören alle zur Gruppe der gebildeten Kleriker, die mit französischer Muttersprache in Québec aufwachsen und im Priesterseminar in Québec-Stadt bzw. Montréal ausgebildet werden und dort lehren. Ihr gemeinsames Bestreben ist es, das kulturelle Niveau der Québecer zu erhöhen, was auch Thomas Maguire antreibt. Doch ist er englischer Muttersprachler, der erst mit 13 Jahren eine frankophone Jesuitenschule besucht und nach mehreren Missionsreisen durch Frankreich als Priester Philosophieunterricht im Priesterseminar in Québec gibt. Er hat daher einen größeren emotionalen Abstand zum traditionell gesprochenen Französisch in Québec und vertritt mit Verve die in Frankreich erlernte, angesehene Norm des Pariser Französischen.

      4.2.1 Soziohistorischer Hintergrund der Normdiskussion

      Um zu verstehen, warum das Lehrbuch Maguires so empfindlich aufgenommen und kritisiert worden ist, muss der politische Hintergrund vor Augen geführt werden: Québec war bereits 80 Jahre (1760–1840) ohne direkten Kontakt zu Frankreich, seit der Kapitulation von Montréal bzw. dem Vertrag von Paris 1763, der die Verluste der französischen Überseekolonien bestätigte. 1837–38 wurde in Québec die Forderung nach repräsentativer Demokratie laut, der Parti patriote rief sogar zur Rebellion auf, welche durch die englische Armee niedergeschlagen wurde. In diesem Zuge war Lord Durham aus England geschickt worden, um die zwei Kolonien Haut-Canada und Bas-Canada zu vereinen und dadurch aus der französischen Bevölkerung eine Minderheit zu machen. Ziel sollte die Assimilierung der frankophonen Bewohner sein, denn sie seien – so die Sicht der englischen Machthaber – ein Volk ohne Geschichte und ohne Literatur („sans histoire et sans littérature“, Bouchard 2012, 95). Diese klare Einschätzung war ein Schock für die Gebildeten der Zeit (besonders für Etienne Parent). Gesteigert wurde das Gefühl der Unterdrückung durch den Acte d’Union (1840), in dem das Englische in § 41 zur alleinigen offiziellen Sprache der Union deklariert wurde.9 Diese Zurückdrängung wurde als kollektive Niederlage empfunden, was zu einer gesellschaftlich depressiven Stimmung führte.

      Aufgrund der Kritik an der Sprache der Québecer Bevölkerung10 wurde das Manuel als Angriff auf das wichtigste Identitätsmerkmal der Frankokanadier aufgefasst und wie eine Ohrfeige empfunden, denn es wirkte wie eine Bestätigung der Aussage von Lord Durham, dass die Frankokanadier keine Sprachkultur hätten. Somit war es ein Angriff auf die Eigenständigkeit und Schaffenskraft der Kultur in Québec.

      Doch ist es nötig, sich die Kritik zu einzelnen Fragen detaillierter anzuschauen, um die Zielrichtung der Sprachkritiker zu verstehen.

      4.2.2 Diskussion über die Variante /wɛ/ oder /wa/ <oi>

      Als Beispiel für die Normdiskussion kann die Auseinandersetzung um ein (bis heute) zentrales Merkmal des Québécois erläutert werden. Maguire schreibt:

      Suivant eux [grammairiens français], voir, boire, croire, moi, toi, droit etc. se prononcent voar, boar, croar, toa, moa, droa. Il faut donc se garder de donner le son de l’È ouvert à la diphtongue oi, et se garder de prononcer, vo-ère, bo-ère, cro-ère, mo-è, to-è, dro-è etc. Le dictionnaire de l’Académie, et la plupart des grammairiens modernes donnent, à quelques exceptions près, la même règle pour la prononciation de la diphtongue oi.

      Demers hält ihm entgegen, dass es mehrere Varianten gebe und oa nur in einigen Wörtern die richtige Aussprache sei, in anderen hingegen : Im Wörterbuch von Catineau 181711 würden pois und mois mit oa gesprochen, aber ansonsten sei es moè, toè, soè, croère. Die Aussprachevariante oa sei in Frankreichs Süden verbreitet und habe sich ausgebreitet, aber gelte nur für einige Wörter. Seine Argumentation geht dahin, dass auch in Paris vielfach gesprochen werde und daher der kanadische Gebrauch sehr gut sei. Insofern argumentiert er nicht aus dem Sprachgebrauch in Québec heraus, sondern beschreibt nur, dass die Aussprache vorherrsche. Demers ist somit keineswegs ein Verteidiger der Québecer Aussprache, denn er verurteilt sogar einige kanadische Ausspracheformen, die Maguire nur kurz angesprochen hatte, wie z.B.

      Le son de la voyelle a, comme le son de quelques autres voyelles, peut être aigu ou grave: il est aigu dans patte, natte et grave dans hâte, pâte. On conçoit facilement que le son grave doit être plus fort, plus


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