Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
hinaus können Geschichten als überaus bedeutsames und effektives Medium betrachtet werden, um sowohl Sprachen als auch das Lernen selbst zu lernen, denn die Schülerinnen und Schüler entfalten und verbessern im Prozess des Problemlösens, Vergleichens, Vorhersagens und Planens vielseitige individuelle Denkstrategien (Ellis/Brewster 2002; Frame 2007). Ferner erarbeiten und verwenden sie diverse Methoden, um die (Fremd-)Sprache zu erlernen, indem sie beispielsweise die Bedeutung von unbekannten Wörtern aus dem Kontext erschließen, und sie entwickeln bzw. verfeinern multiple Arbeitstechniken wie das Benutzen von Nachschlagewerken, das Organisieren von Arbeitsschritten oder das Anfertigen von Notizen, um nur einige zu nennen. Geschichten liefern zudem einen natürlichen Rahmen, um neue Vokabeln und auch Strukturen im sinnvollen Zusammenhang zu lernen und in konkreten Sprachhandlungen zur Anwendung zu bringen, also beispielsweise relevante Vokabeln erfolgreich aus dem individuellen mentalen Lexikon abzurufen (Wolff 2002a). Sprich: “Experiencing the language rather than merely studying it“ (Wright/Hill 2008, 9). Zu Recht monieren Pishghadam und Motakef (2012) den Mangel an Forschungsarbeiten, die das Verhältnis zwischen narrativer Intelligenz und Sprachenlernen untersuchen.
Gerade beim Fremdsprachenlernen ist die Authentizität von Inhalt und Sprache ein wichtiger Motivationsfaktor, denn bei authentischen Geschichten – egal ob Bilderbuch, Märchen oder Jugendliteratur – haben Lernende im Sinne des interkulturellen Lernens den Eindruck, etwas „richtig Englisches“ und somit etwas „Brauchbares“ kennenzulernen, nämlich etwas, mit dem sich auch Kinder und Jugendliche in englischsprachigen Ländern beschäftigen.
Andrew Wright (1997) sieht im gemeinsamen Erfinden von Geschichten vor allem den Wert des Einbringens eigener Erfahrungen, Gefühle und Kenntnisse: “When children create and tell a story in the foreign language the story and the language become theirs“ (Ebd., 3). Dieser Aspekt wird im Kontext des Storyline-Modells als ownership principle bezeichnet und gilt hier als eines der wichtigsten Prinzipien überhaupt.2
Das Vorlesen und gemeinsame Erzählen von Geschichten bewirkt eine sinnlich-anschauliche Lebendigkeit der Situation und fördert somit das individuelle Lernen bzw. den subjektabhängigen Wissenserwerb, wie dies auch in den konstruktivistischen Lernprinzipien dargelegt wird (vgl. Kapitel 3), denn Geschichten ermöglichen die Entstehung von ganz individuellen Bildern vor unserem inneren Auge: „Diese Bilder bewegen sich, werden ihrerseits sprechend, können uns erregen, Gerüche ausstrahlen. Sie können uns anfassen, entspannen, anspannen (...). Wer erzählen kann, schafft im Zuhörer eine eigene Welt der Vorstellungen, die dieser selbst neu erschaffen muß“ (Beck/Wellershoff 1989, 64). Zuhören fördert außerdem das Hörverstehen sowie die Konzentrationsfähigkeit der Lernenden, denn sie möchten die Bedeutung einer Geschichte erschließen. Deshalb hören sie aufmerksam zu (Wright 2008), auch wenn sie nicht jedes Wort auf Anhieb verstehen: “Children will be concentrating on the meaning of the story, not on why and how the simple (...) past is used. Their previous knowledge of narrative conventions in their mother tongue will have, to some extent, prepared them for its use in the target language“ (Ellis/Brewster 2002, 8-10).
Anzumerken und gleichzeitig zu bedauern ist in diesem Zusammenhang, dass im gängigen Unterricht die von den Lernenden selbst verfassten Texte und Geschichten üblicherweise meist nicht ausreichend gewürdigt werden, denn Schreibaufträge werden – wenn überhaupt – in der Regel nur von der Lehrkraft gelesen, begutachtet und benotet, wobei meist eher auf die sprachliche Korrektheit als auf Inhalt, Kreativität und Phantasie geachtet wird. Dies hält wiederum viele Lehrende davon ab, überhaupt kreative Aufgaben zu stellen, da sie befürchten, dass zu viele Fehler gemacht werden, welche die Mitlernenden möglicherweise zur Imitation anregen. Im gleichen Zug fühlen sich Lernende oft in ihrer Kreativität und Motivation eingeschränkt, wenn sie wissen, dass ihre Texte sprachliche Fehler enthalten, die möglicherweise noch mit Rotstift hervorgehoben werden, während der Inhalt gänzlich in den Hintergrund tritt.
Arbeitsprodukte werden jedoch für alle Seiten zufriedenstellender – das zeigt sich auch immer wieder bei Storyline-Projekten – wenn nicht nur die Lehrkraft als Adressatin und Anlass für die Erfindung einer Geschichte betrachtet wird, sondern wenn diese aus dem Wunsch heraus entsteht, sie einem größeren Publikum zu präsentieren. Außerdem fördert „das Erlebnis des gemeinschaftlichen Zuhörens“ das Sozialklima der Klasse (Hesse 2015, 6). Auch Wright (1997) hebt die Bedeutung der Veröffentlichung von Geschichten hervor, sei es über Plakate, selbst gemachte Bücher oder szenische Darstellungen. Weitere Verbreitungsformen bieten heute auch das Internet oder schuleigene Radiosender (auch als Webradio).
Während im regulären Unterricht Schülerinnen und Schüler bei Schreibaufträgen meist sofort nach dem geforderten Umfang fragen, wird bei Storyline-Projekten häufig die Beobachtung gemacht, dass die Lernenden mit großer Begeisterung und Konzentration schreiben, weil sie interessengeleitet ihrer Phantasie freien Lauf lassen können. Eiriksdóttir stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Produkte auch sprachlich zufriedenstellender seien:
We all know that it can be difficult when e.g. the textbook says that you should write about an interesting event in your summer holiday, and now it is the middle of winter! (...) When we are working on Storyline topics the pupils are involved in the Storyline and the writing within the topic has a purpose and everyone knows what to write about (...) It is not only that they write longer pieces they also use richer and more complicated vocabulary. A research was done in Iceland in 1985 on the vocabulary of children’s writing connected with Storyline work and the results were that they used more complicated vocabulary than usually (Eiriksdóttir 2001, 150).
Abschließend sei darauf verwiesen, dass jeder Mensch, der etwas entdeckt, erfindet oder erstellt, erfahrungsgemäß ein natürliches Mitteilungsbedürfnis verspürt. Dies sollte im Unterricht stärker genutzt und gefördert werden: Durch eine geeignete story kann spielerisch leicht eine authentische und zweckorientierte Kommunikation im Klassenzimmer entstehen, und zwar häufig fast ohne Mittun und Eingriff der Lehrkraft, denn auf Grund der Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Storyline-Projekten immer wieder eigene Aufgabenbereiche, Darstellungsformen und Materialien auswählen können (choice) und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen und Lösungen kommen (information gap/opinion gap), entsteht ein ganz natürliches Interesse und Bedürfnis, sich regelmäßig und intensiv auszutauschen. “The magic of stories“ (Hesse 2015) kann sich also in vielerlei Hinsicht positiv auf das (fremdsprachliche) Lernen auswirken. Ob diese These tatsächlich für alle Altersgruppen gilt, ist zu klären und (auch) Ziel meiner Untersuchungen (vgl. Teil B).
2.3.2.1.1 Zur Typologie: Konkrete Beispiele für den Fremdsprachenunterricht
Eine narrative Rahmenhandlung für ein Storyline-Projekt kann – je nach Lernbereich, Zielsetzung, Interesse, Alter und Sprachkompetenz der Lernenden – auf unterschiedlichste Art und Weise geschaffen werden. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem Fremdsprachenunterricht liegt, werden nachfolgend vorrangig diesbezügliche Beispiele genannt, wobei es selbstverständlich auch möglich ist, einen Teil des Projekts im fremdsprachlichen und andere Phasen im muttersprachlichen Unterricht zu realisieren.
Generell kann jedes beliebige Thema als Aufhänger für ein Storyline-Projekt gewählt werden. Dabei kann es sich um ein Kapitel aus dem Schulbuch (Robin Hood; Space camp Florida; Life on a farm), eine Phantasiegeschichte (Aliens; Dragon Island; The enchanted forest), ein fächerübergreifendes und/oder bilinguales Thema (Life in a medieval castle; A trip across the Australian outback; Californian gold rush), die Lektüre eines Märchens (Cinderella; Snow White; Little Red Riding Hood), eines klassischen Werkes (Macbeth; Romeo and Juliet; The Great Gatsby) oder eines Jugendromans (Robinson Crusoe; Uncle Tom’s cabin; Harry Potter) handeln. Darüber hinaus kann auch ein musikalischer Beitrag1 (Phantom of the Opera von A.L. Webber; Loch Lomond von Runrig; Zombie von The Cranberries) oder ein aktuelles Thema aus der Lebenswelt der Jugendlichen (Song contest; Work and travel; Our new youth club) als Basis für eine Storyline dienen. In den meisten Fällen wird es so sein, dass sich realitätsnahe und fiktive Elemente in einem Storyline-Projekt vermischen und lediglich ein Schwerpunkt bezüglich