Übersetzungstheorien. Radegundis Stolze
Texte, d.h., ein literarischer Textliterarischer Text, der dieser Qualitäten verlustig geht, verliert seine Literarizität. Das gilt in der Regel nicht für Sachtexte, die auch in „ent-ästhetisierter“ FormForm ihre Sachtextfunktion(en) erfüllen können (1992:253).
Ausführlich wird auf die besonderen Probleme im Zusammenhang mit der Übersetzung von Metaphern und Sprachspielen eingegangen. KOLLERKoller verweist auf statistische Untersuchungen, nach denen in zwei Dritteln der Fälle Metaphern des Originals mit Metaphern übersetzt wurden. Dabei wird eine „okkasionelle MetapherMetapher“ manchmal auch durch eine konventionelle Metapher übertragen oder durch Einfügung einer Metapher an anderer Stelle kompensiert. KOLLER zieht daraus den Schluss, dass „im Durchschnitt nur die Hälfte der okkasionellen Originalmetaphern als okkasionelle, d.h. stilistisch wirksame Metaphern übersetzt sind“ (1992:256), was die verbreitete Behauptung bestätigt, Übersetzungen seien „flacher“ als die Originale. Weil Sprachspiele meistens auch Spiele mit ästhetischen und thematischen Bedeutungen sind, ist hier die Möglichkeit kompensatorischer Verfahren begrenzt, und meist sind sie auch kaum übersetzbar. Zusammenfassend wird festgestellt:
Der ÜbersetzerÜbersetzer (…) hat bei jedem Text als Ganzem wie auch bei Textsegmenten die Aufgabe, eine Hierarchie der in der Übersetzung zu erhaltenden Werte aufzustellen, aufgrund deren er eine Hierarchie der Äquivalenzforderungen bezüglich des betreffenden Textes bzw. des betreffenden Textsegmentes ableiten kann“ (KOLLERKoller 1979:191; 1992:266).
Diese Hierarchie bezieht sich auch auf das einzelne Textsegment, und KOLLERKoller lehnt, ganz anders als noch NIDANida, die Kompensation eines Wertes an anderer Stelle im Text ausdrücklich ab (1992:263). Implizit wird unterstellt, dass eine Übersetzung danach zu beurteilen sei, inwieweit jeweils eine Übersetzungseinheit in jedem der herausgearbeiteten Merkmale optimale ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung erzielt.
Die Ergebnisse können angeblich mit einer „wissenschaftlichen ÜbersetzungskritikÜbersetzungskritik“ (1979:210ff; 1992:127) überprüft werden, die ein Vorgehen in drei Schritten umfasst: die übersetzungsrelevante TextanalyseTextanalyse, den Übersetzungsvergleich und die Übersetzungsbewertung. Der Übersetzungsvergleich gliedert sich in einen praktischen und einen theoretischen Teil1Übersetzungskritik:
Im praktischen Teil werden OriginalOriginals. Ausgangstext und Übersetzung (bzw. repräsentative Textausschnitte) Übersetzungseinheit für Übersetzungseinheit miteinander verglichen, wobei die Übersetzungseinheit umfangmäßig vom Einzelwort bis zum Textabschnitt oder dem ganzen Text reichen kann. Es wird von der Frage ausgegangen, wie die in der übersetzungsrelevanten TextanalyseTextanalyse herausgearbeiteten Merkmale sprachfunktionaler, inhaltlicher, sprachlich-stilistischer, formalästhetischer und pragmatischer Art im ZS-Text realisiert sind und welcher Stellenwert diesen Realisierungen in der ZS zukommt. (…) Im theoretischen Teil geht es um die Rekonstruktion der Äquivalenzforderungen bzw. der Hierarchie von Äquivalenzforderungen, denen der ÜbersetzerÜbersetzer in seiner Übersetzungsarbeit folgt: von welchen Prinzipien läßt er sich leiten, und wie wirken sie sich in der sprachlich-stilistischen Gestaltung des Textes aus? (1979:215).
KOLLERS linguistische ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft geht in der Breite des Ansatzes über NIDANida hinaus. Anhand der Diskussion vorliegender Übersetzungen werden deskriptiv mögliche Übersetzungsstrategien zusammengetragen, die dann einmal normativnormativ operationalisiert werden sollen. Dies erinnert stark an den Ansatz der Stylistique comparéeStylistique comparée (s. Kap. 5.1), auch wenn das Augenmerk hier stärker auf Texte und ihre kontextuellen Bezüge gelenkt wird. So könnte man einwenden, dass damit nur das systematisch gesichtet wird, was ÜbersetzerÜbersetzer ohnehin schon tun. Ihr Verhalten wird so zwar linguistisch untermauert, doch es werden dadurch kaum neue Einsichten, auch für bessere oder andere Übersetzungen, gewonnen. Manche Postulate als „Aufgabe der Übersetzungswissenschaft“ bleiben unerfüllt im Raum stehen. Doch KOLLERKoller erstrebt auch nicht unbedingt eine praktische Anwendbarkeit für die Übersetzungswissenschaft, denn „die sprachenpaarbezogene und die textbezogene Übersetzungswissenschaft beschreiben die Äquivalenzbeziehungen zwischen Sprachen und Texten zunächst unabhängig davon, ob der Übersetzungspraktiker mit diesen Beschreibungen etwas anfangen kann oder nicht“ (1992:133). Zwischenzeitlich hat HOUSE (1997) ein konkretes Beschreibungsmodell vorgelegt (s. Kap. 4.5).
6.5 Der BegriffBegriff „ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung“
Wie in den vorangehenden Abschnitten deutlich geworden ist, stand die Diskussion um die Zielbeschreibung des Übersetzens lange Zeit im Zeichen des Begriffs „ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung“. Angesichts zahlreicher Missverständnisse ist es wichtig, die Herkunft dieses in der übersetzungswissenschaftlichen LiteraturLiteratur äußerst umstrittenen Begriffes zu kennen. Der Terminus stammt ursprünglich aus der Mathematik und formalen Logik und meint die „umkehrbar eindeutige Zuordnung“ von Elementen in einer Gleichung, eine Identität in anderer Gestalt. Im Sinne eindeutiger Zuordnung genormter Fachtermini wird er in den Fachsprachen verwendet.
In diesem Sinne ist es einleuchtend, wenn die Leipziger übersetzungswissenschaftliche Schule die BezeichnungBezeichnung ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung für die Gleichung zwischen einlaufender und nach Umkodierung wieder auslaufender InformationInformation im interlingualen KommunikationsvorgangKommunikationsvorgang verwendet hat (s. Kap. 4.2): Hier wird gerade die unveränderte Gleichheit der übermittelten Nachricht postuliert. Bei der Frage, woran dies festgemacht werden könnte, ergaben sich zunächst die mehr oder weniger direkten Entsprechungen zwischen zwei Sprachen, die „potentiellen Entsprechungen“ (s. Kap. 4.3) als Zeichenäquivalente.
In der Stylistique comparéeStylistique comparée, die die oberflächenstrukturelle Nähe und Ferne von Sprachenpaaren untersucht und auch von einer „équation de traduction“ spricht, heißt frz. équivalence aber die ÜbersetzungsprozedurÜbersetzungsprozedur des Ersetzens einer ausgangssprachlichen SituationSituation durch eine kommunikativ vergleichbare zielsprachliche Situation (s. Kap. 5.1). Es steht damit neben adaptation als der Kompensation von soziokulturellen Unterschieden in den beiden Sprachgemeinschaften. In ähnlicher Weise ist bei NEWMARKNewmark (s. Kap. 5.3) das e. equivalent nicht BezeichnungBezeichnung für eine Bedeutungsgleichheit, sondern es benennt eine Übersetzungsprozedur, wie z.B. „cultural equivalent“, „functional equivalent“ oder „descriptive equivalent“, wenn es um die Kompensation kultureller Differenzen geht. Eine „translation equivalence“ im Sinne von übersetzungskritisch absicherbarer Übereinstimmung gibt es seines Erachtens nur bei den außersprachlichen universellen Gegenständen, und in geringerem Maße auf der Ebene einzelner Substantive und Verben, nicht jedoch bei Texten. Demgegenüber sind bei CATFORDCatford (s. Kap. 4.4) die „translation equivalents“ nur dann sprachlich austauschbare Textelemente, wenn sie in einer vergleichbaren Situation funktionieren. Hier geht es nicht um inhaltliche Gleichheit. HOUSEHouse (s. Kap. 4.5) versteht unter „Äquivalenz“ die Identitätsrelation zwischen den Texten auf allen linguistischen Ebenen.
Im Bereich der linguistischen ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft hat v.a. NIDAS Postulat der „dynamic equivalence“ Furore gemacht (s. Kap. 6.2). Er verwendet den in der englischen Gemeinsprache unscharfen AusdruckAusdruck equivalence, der hier quantitativ relativierend die BedeutungBedeutung of similar significance (Oxford English Dictionary) hat, und daher nicht mit „dynamischer ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung“ übersetzt werden sollte.1WilssKollerNidaEntsprechungGleichwertigkeit Hier geht es um die funktionale Anpassung der in ihrem InhaltInhalt unverfälschten Botschaft an zielkulturelle Vorstellungen. Solche „GleichwertigkeitGleichwertigkeit“ ist also die eher abstrakte Forderung nach natürlicher Ausdrucksweise und Verständlichkeit, während das „closest natural equivalent“ auf lexikalisch-syntaktischer Ebene die größtmögliche Nähe hinsichtlich SinnSinn und StilStil verlangt. Hier gehen formal viele Ähnlichkeiten verloren. Sprachliche Verfahren der Texttransformation zur Erzielung von Äquivalenz diskutiert SCHREIBER (1993).
Von KOLLERKoller wird dann der BegriffBegriff „ÄquivalenzÄquivalenzs. Entsprechung“ noch umgedeutet und erweitert zu „Äquivalenzforderungen normativer Art“ auf der Textebene. „ÄquivalenzÄquivalenzs.