Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch


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aus Sicht der Akademien. Es handelt sich um eine der genauesten Definitionen und Einschätzungen in puncto Ballettkomödie seiner Zeit: „Il [Molière, Anm. S.W.] a, le premier, inventé la manière de mêler des scènes de musique et des ballets dans ses comédies et trouvé par là un nouveau secret de plaire qui avait été jusqu’alors inconnu.“22

      Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die aufgezählten Äußerungen zu Molières Meisterleistung bei zeitgenössischen Kritikern den Eindruck einer innovatio erwecken, verstanden als Steigerung zur aemulatio, aber gleichwohl im Sinne einer autonomen Schöpfung, welche nicht mehr ausschließlich auf das Prinzip der Nachahmung baut, sondern bereits auf eine Vorform des ingenium. Die comédie-ballet reflektiert eine wichtige Schaffensphase im Werk von Molière, die sich einem erschließt, wenn man

      diesen großen Dichter nicht nur als den genialen Menschenkenner, Charakteristiker, Moralisten und Satyriker anzusehen [gewillt ist], sondern ihn ebenso in seiner gewaltigen künstlerischen Bedeutung als Meister der Form, der Theatralik und reinen bühnenmäßigen Bewegungskunst zu verstehen versucht.23

      1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire

      Donneau de Vizé zufolge gelingt es Molière mit der Ballettkomödie, einen „nouveau secret de plaire“ zu schaffen, ein Unterfangen, das in der Kombination der drei Künste Musik, Tanz und Komödie gründet. Auch Pellisson intendiert in seinem Prolog zu Les Fâcheux, dass es bei dem Spektakel darum gehe, dem König zu gefallen: „Il s’agit de lui plaire […].“1 Der art de plaire ist einer der Hauptstreitpunkte in den Kritiken von 1660 bis 1680, denn daran ist der goût gekoppelt. Die Rezeption der Werke sorgt nicht selten für Zündstoff bei den doctes, den Schiedsrichtern des bon goût: Eine Querelle entfacht, wenn Werke, die gegen die strengen Prinzipien der doctrine verstoßen, dennoch sowohl dem goût der Zeit entsprechen als auch mit dem plaire des Herrschers und mit dem des Publikums korrespondieren. Der Wunsch zu gefallen wird fast in jedem Vorwort großer literarischer Werke angeführt, sodass er zu Zeiten Molières zum erschöpften Topos, zur leeren Formel mutiert. Bei einer epideiktischen Rhetorik besteht der Prolog aus einer Lobrede auf den König oder einer taktvollen Empfehlung des Herrschers, mit der Absicht des Künstlers, sich der Gunst und dem Wohlwollen des Souveräns für die Aufführung gewiss sein zu können. Molière rekonstruiert diesen Gemeinplatz und besetzt ihn neu, wodurch er seine Glaubwürdigkeit als Komödienautor bekräftigt und etwaigen Anfeindungen geschickt vorbeugt. In seiner poetologischen Komödie La Critique de l’École des Femmes lässt er Dorante diesbezüglich sagen:

      Je voudrais bien savoir si la grande règle de toutes les règles n’est pas de plaire; et si une pièce de Théâtre qui a attrapé son but n’a pas suivi un bon chemin. Veut-on que tout un public s’abuse sur ces sortes de choses, et que chacun n’y soit pas juge du plaisir qu’il y prend? (CEF, 507)2

      Uranies Antwort führt Dorantes Gedanken zum plaire weiter. Sie stimmt ihrem Vorredner zu und merkt ergänzend ein allgemeines Missfallen der zu sehr auf Regelhaftigkeit hin komponierten Komödien an: „J’ai remarqué une chose de ces Messieurs-là; c’est que ceux qui parlent le plus des règles, et qui les savent mieux que les autres, font des Comédies que personne ne trouve belles.“ (CEF, 507)

      Indem Molière den plaire zur Kardinalsregel erklärt, wertet er das Vorhaben auf, seinem Publikum zu gefallen, und legitimiert zugleich den goût, denn es kann nur gefallen, was dem Kunstgeschmack entspricht. Damit vereint er die Gegensätze miteinander, erklärt er doch den zeitgenössischen Kunstgeschmack der Rezipienten über den intendierten plaire zur poetologischen Regel. Da der plaire in jener Zeit zum fundamentalen Gesetz der galanten Ethik wird, stellt dessen Erfüllung die wichtigste Aufgabe eines modernen Autors dar, der die Instruktionen den Pedanten von früher überlässt und sich kaum darum kümmert, jene anzunehmen.3 Molière würdigt seine literaturästhetischen Aspirationen hier, indem er anführt, dass das Leben im Umfeld höfischer Kreise „une manière d’esprit, qui, sans comparaison, juge plus finement des choses, que tout le savoir enrouillé des Pédants“ (CEF, 506) entwickele.4 Dieser Gedanke ist gar nicht so fremd, wenn man bedenkt, dass das Publikum la cour et la ville ist, eine dem kulturellen Ideal der honnêteté zugewandte Gesellschaftsschicht, die auf dem Prinzip der raison fußt, also auf jenem Prinzip, nach welchem die doctrine classique aufgebaut ist. Im Grunde existiert daher keine große Opposition zwischen doctrine und goût, denn beide literaturästhetischen Bewertungskriterien orientieren sich an der großen literarischen Tradition der Antike, die im 16. Jahrhundert durch den Humanismus wiederentdeckt wurde.5 Sonach wird dem Dodekameron über den Aspekt der raison implizit eine Regelaffinität attribuiert, eine Art reglementierte Pseudo-Regellosigkeit des guten Geschmacks. Die Tatsache, dass es sich nicht immer vorrangig um ästhetische Differenzen bei den Bewertungsprinzipien handelt, zeigen die immer wieder aufkommenden Querelles in dieser Epoche, die von persönlichen respektive politischen Machtkämpfen gezeichnet sind.

      Molière widmet seine Ballettkomödien in erster Linie dem Sonnenkönig und zielt primär auf dessen Geneigtheit ab. Die fehlende Poetik und die daraus nicht ableitbaren Regeln für das neue Genre werden durch die Regel des plaire substituiert, der zum obersten Gestaltungsprinzip avanciert. Somit ermöglicht Molière eine exklusive Beurteilung seiner Werke durch den König und nicht durch die Theoretiker – ein Rezeptionsvorgang, der den Monarchen zum kulturellen Alleinherrscher macht und ihn zum Schiedsrichter des bon goût erhebt. Der königliche Kunstgeschmack infiltriert das Publikum, welches seinerseits bestrebt ist, dem Souverän den art de plaire entgegenzubringen, sodass dabei ein Rückkoppelungseffekt entsteht, den der Sonnenkönig selbst wie folgt beschreibt:

      Les peuples, d’un autre côté, se plaisent au spectacle, où, au fond, on a toujours pour but de leur plaire; et tous nos sujets, en général, sont ravis de voir que nous aimons ce qu’ils aiment, ou à quoi ils réussissent le mieux. Par là nous tenons leur esprit et leur cœur, quelquefois plus fortement, peut-être, que par les récompenses et les bienfaits.6

      Die Untergebenen gefallen sich in der Rolle der wohlwollenden Rezipienten, weil sie dadurch, dass sie Gefallen signalisieren, dem König huldigen, über ihre stilbildende Funktion ihre Zugehörigkeit zur elitären Gesellschaft bestärken und sich zugleich in der reziproken Spiegelung selbst zum Glanz der Feste machen. Für les classiques ist der art de plaire „un art de vivre et de se rendre heureux en se faisant aimer des autres, au bonheur desquels on a soi-même contribué“7. Daher kann im einzigartigen Charakter der comédie-ballet – sowohl hinsichtlich ihrer künstlerischen Vollkommenheit als auch ihrer machtpolitischen Wirksamkeit – der „nouveau secret de plaire“ liegen. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der nouveau spectacle aufgrund seiner Konstitution ein nouvel art de plaire absolutistischer Kulturpolitik ist.

      Die im Vergleich zu heute spärlich erscheinende Mediatisierung im siècle classique erklärt die Relevanz höfischer Divertissements unter dem Aspekt politisch-strategischer Motive: Die Ballettkomödie repräsentiert die absolutistische Herrschaftsform und trägt im Gegensatz zu Italien, das seine kulturelle Einheit eher über die Oper definiert, zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs, dem neuen Machtzentrum Europas, bei. Die kulturelle Blütezeit, die auf eine lange Tradition des Sprechtheaters in Frankreich aufbaut, wird zum größten Teil durch Farce-, Komödien- und auch Tragödienautoren wie Corneille, Rotrou, Paul Scarron und Jean Mairet bestimmt, die das nationale Theatererbe für Molière liefern. Ebenso spielt der Tanz in der französischen Klassik eine große Rolle, wenn man von einem kulturspezifischen Referenzpunkt des Landes spricht. Die Gattungsfusion aus Sprech- und Tanztheater hat folglich starke nationale Wurzeln, die in ihrem Zusammenschluss eine kulturelle und auch politische Stärke Frankreichs verkörpern. Zudem war diese Fusion im Zuge des Einheitsstrebens zum absoluten Staat nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch dienlich, ließ sich doch so der kulturelle Bereich und die damit verbundene Überlegenheit der Nation auch international demonstrieren. Aleida Assmanns Lichtmetaphorik bezüglich der Konstitution kultureller Machtzentren untermauert den stark auf Visualität hin angelegten Aspekt der klassischen Regierungsform. Zudem verdeutlicht sie den


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