Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch


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die Teilhabe des Zuschauers an der theatralischen Interaktion bekommt er seine Rolle verliehen, die sich darin erschöpft, durch das Zusehen dem mimischen Agieren einen Sinn zu verleihen:1

      Theater ist nur und nur das ist Theater, wenn in einer symbolischen Interaktion ein rollenausdrückendes Verhalten von einem rollenunterstützenden Verhalten beantwortet wird, das auf der gemeinsamen Verabredung des ‚als-ob‘ beruht.2

      Die Veranstaltungssituation ist demnach wirklich, jedoch ist das, was dort dargeboten wird, unwirklich; unwirklich deshalb, weil das dargestellte Spiel in den Zusammenhang mit der Theatersituation gebracht wird und einer lebensweltlich-basierten Lesart entzogen werden kann.

      Des Weiteren verdrängt ein gesteigertes Rollenspielbewusstsein die auf Identifikation und Illusion hin angelegte dramatische Perspektive. Das hat zur Folge, dass ein Rivalitätsverhältnis zwischen den Kommunikationsebenen zu konzedieren ist. Es stellt sich somit beim Betrachter immer dann eine theatralische Sichtweise ein, wenn er weder zu sehr die Fiktion absorbiert, noch durch die Thematisierung eines lebensweltlichen Sachverhaltes aus der Theatersituation herausgerissen wird.3 Eine Aktualisierung dieser Perspektive tritt immer dann zutage, wenn das Spiel explizit auf seinen Darstellungs- oder Veranstaltungscharakter verweist, etwa durch musikalische und tänzerische Einlagen sowie Publikumsapostrophen. Weitere Belebungen der Theatersituation erzeugt der Schauspieler, wenn er als Darsteller wahrgenommen wird und sich sein Rollenspiel als solches zeigt. Dazu eignen sich Geschicklichkeitsspiele, artistische Einlagen, Kampfszenen, Rededuelle, Streitszenen und die Zwischenspiele der Ballettkomödien, die durch die Erweiterung der Darstellerriege mit Musikern und Tänzern eine erhöhte Darstellungsartifizialität erzeugen und die Theatersituation nachdrücklich zu erkennen geben. Die Schauspielerakzentuierung zeigt zudem, dass sich der Mime nicht als vergegenständlichter Teil des Schauspiels sieht, sondern willentlich und bestimmt in die Produktion eingreift und diese individuiert.4

      Ferner kann sich die bewusste Korrespondenz zwischen Spielen und Schauen auf der Bühne etablieren, und zwar stets dann, wenn es sich um ein Spiel im Spiel handelt, wobei sich das Prinzip des externen Kommunikationssystems auf das interne projiziert. Es handelt sich um ein Prinzip, das Bernhard Greiner „transzendental aussagekräftig“5 nennt, weil die Spiel-im-Spiel-Strukturen zugleich die Regeln vorgeben, die den jeweiligen Diskurs ‚Komödie‘ bestimmen.6 Diese Struktur offenbart sich konkret auf der Bühne, wenn eine theatralische Einlage in die Bühnenhandlung eingefasst wird und das Theaterspiel nicht nur vor Zuschauern, sondern auch unmittelbar vor Bühnenfiguren gespielt wird und die Darsteller zugleich zu Schauspielern und Zuschauern werden: Der Schauspieler verbirgt in der Potenzierung des dargestellten Rollenspiels seine eigentliche Person, die eine theatralische Doppelung erfährt und seine Rolle im Stück ambiguiert, sodass diese Pluralisierung für einen semantischen Mehrwert der sprachlichen Zeichen auf der Bühne sorgt.

      Das Theater auf dem Theater – wie das dramaturgische Gestaltungsmittel des Spiels im Spiel ebenfalls genannt wird – zeichnet sich demnach durch eine simultan dargestellte primäre und sekundäre Fiktionsebene aus, durch ein inneres und äußeres Rollenspiel, wobei die Rahmenhandlung temporär in den Hintergrund tritt und der eingerahmten Handlung gewissermaßen den ‚Spielball‘ zuwirft; diese mise-en-abyme-Struktur erzeugt ein räumliches und temporäres Nebeneinander von Rahmen- und Kleinform.7 Der Spiel-im-Spiel-Situation kann in dieser Hinsicht eine handlungsunterbrechende wie auch eine handlungstreibende Funktion zukommen. In diesem Kontext ist von einer illusionsmindernden und illusionsfördernden Wirkung des Spiels im Spiel für die Zuschauer zu sprechen.8 Diese Gegenläufigkeit resultiert aus der Engführung von dramatischer und theatralischer Kommunikationsebene, da neben dem Rollenspiel der Dramenpersonen zugleich das eigentliche Spiel des Mimen in den Vordergrund tritt.

      2.1.3 Die lebensweltliche Kommunikationsebene – die gesellschaftliche Kommunikation über das Fiktionale

      Die lebensweltliche Kommunikationsebene umfasst das innere wie auch das äußere Kommunikationssystem und fokussiert die gesellschaftliche Kommunikation über die Inszenierung und deren Bezug auf lebensweltliche Normen. Sie ist das Wirkliche im Unwirklichen oder die realitätsbezogene Kommunikationsebene im Gegensatz zu den beiden angeführten fiktionalen Ebenen. Die lebensweltliche Perspektive wird aus einem Zusammenspiel zwischen dem lebensweltlichen Kontext und dem Sujet vermittelt; sie macht das Handlungsthema zum Angelpunkt einer Interaktion, bei der Autor, Regisseur und Schauspieler mit dem Publikum über die Brücke der sie verbindenden sozialen Realität miteinander kommunizieren:

      Durch eine solche Aktualisierung wird einerseits das immer schon mitgegebene und mitgewußte lebensweltliche Sinnpotential des Sujets thematisch, andererseits werden gleichzeitig bestimmte Ausschnitte des lebensweltlichen Kontexts als Bezugsmomente hervorgehoben, womit sich dieser zunächst diffuse Kontext verdichtet und zur Situation konkretisiert.1

      Diese Annahme Matzats leitet sich von Bertolt Brechts Begriff des Verfremdungseffekts (V-Effekt) ab, von einem künstlerischen Verfahren der Illusionsdurchbrechung in der Darstellung. Diese Kommunikationsebene tritt bei Referenz auf lebensweltlich existierende Personen, Ereignisse, Situationen, Normen und Gesetze im kulturellen Kontext in Erscheinung. Der Zuschauer gewinnt aus der Verfremdung eine neue Sichtweise auf Vertrautes, sodass der V-Effekt auch als Enthüllungseffekt bezeichnet werden kann, da er der Aufdeckung gesellschaftlicher Inkonsistenzen und Paradoxa dient. Ihm ist ein gesellschaftskritisches Moment inhärent, das sich bei der zeitgenössischen Molière-Rezeption mitunter in heftigen Kontroversen zeigte. Gemäß der Verfremdung ermöglicht die lebensweltliche Perspektive dem Rezipienten eine kritische Betrachtung des Geschehens vom gesellschaftlichen, außerästhetischen Standpunkt aus. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn die beiden fiktionalen Ebenen ausgeblendet werden und eine Thematisierung der implizierten Handlungsnormen einsetzt, die über den Bezugsrahmen des Bühnengeschehens und die Veranstaltungssituation hinausweisen.2 Die Normen- und Sinnsysteme der Wirklichkeit bilden den primären Kontext, in den sich die Fiktion einbetten lässt, sodass er die Sujethaftigkeit des Dramentextes immer mitbestimmt.

      2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene – die intermediale figurale Interaktion

      Die von Matzat vorgeschlagenen Rezeptionsperspektiven für die Komödie sind sinnfällig, funktionieren aber nur eingeschränkt für die Ballettkomödie. Für sie bedarf es einer weiteren Komponente innerhalb der für die Theaterrezeption signifikanten Kommunikationsebenen, um ihrer strukturellen Eigentümlichkeit Rechnung zu tragen: die metadramatische Ebene (B–B’). Ihre Berechtigung im Kommunikationsmodell erhält sie dadurch, dass sie eine von den anderen Kommunikationsebenen divergierende Weltsicht beinhaltet, der gewisse Gesetzmäßigkeiten eigen sind, die auf das Bühnengeschehen projiziert werden.

      Die metadramatische Perspektive stellt sich ein, wenn es zu einer Erweiterung des inneren Kommunikationssystems kommt. Dieser Fall tritt dann ein, wenn eine Verständigung zwischen den Dramenpersonen aus der Handlungswelt der Komödie und denen aus den Intermedien stattfindet.1 Generell kann von solch einer Ebene gesprochen werden, sofern der Zuschauer sich dieser Erweiterung bewusst wird, weil sich sonst keine Differenz zur dramatischen Perspektive aufzeigen lässt. Erst über einen Sujetrealitätenwechsel in Kombination mit einem Medienwechsel stellt sich beim Zuschauer diese Rezeptionsperspektive ein: In diesem Fall impliziert der Wechsel der Sujetrealitäten einen merklichen Übergang von der Komödie zum Zwischenspiel, der über die Opposition von Fiktion und Metafiktion erfahrbar gemacht wird. Dieser komödieninterne Realitätsbruch gestaltet sich über zwei Arten von Unwirklichkeit. Zum einen kann eine soziale Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die gesellschaftlich Unmögliches ermöglicht. Zum anderen kann eine empirische Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die Übernatürliches natürlich erscheinen lässt.

      Die soziale Unwirklichkeit taucht dann auf, wenn eine Transformationszeremonie den sozialen Status einer Figur verändert. Die Ermöglichung des gesellschaftlich Unmöglichen wird mit dem die Komödie und das Zwischenspiel verbindenden Spiel-im-Spiel-Prinzip etabliert und geschieht in Absprache mit den Zuschauern im Sinne einer Komplizenschaft, wobei die Drahtzieher des Ränkespiels die vorgetäuschte soziale Unwirklichkeit bis zum Komödienende aufrechterhalten und nicht beenden. Dabei wird das Dargestellte nicht als selbstzweckhafter Spielimpuls verstanden, denn dadurch, dass die sekundäre


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