Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch


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werden. Diese Reihe besteht aus unterschiedlichen Machtzentren, die nacheinander die Fackel eines einzigen universalen Kulturlichts halten; eine gleichzeitige Blüte mehrerer Kulturen ist ebenso undenkbar wie unabhängige Neuentfaltungen. Das bedeutet, daß sich jede neue Kultur als Fortsetzung und Reinkarnation der einen Kultur versteht.8

      Die Ballettkomödie schließt explizit an antike und frühneuzeitliche Traditionen an – verbindet Altes mit Neuem – und entfaltet selbstbewusst eine Bühne zur Selbstdarstellung für das neue europäische Machtzentrum. Auf dieser Bühne kann der Sonnenkönig glänzen, mit seinem apollinischen Licht andere Kulturen überstrahlen und in den Schatten seiner kulturellen und politischen Größe stellen, getreu dem Motto „gouverner c’est paraître“9.

      Auf die gleiche Art und Weise wie der neue Regierungsstil des Sonnenkönigs als Neugestaltung des normativen politischen Systems im Frankreich des 17. Jahrhunderts empfunden wurde, ist die Ballettkomödie als Neugestaltung des normativen Gattungssystems zu sehen – kulturhistorische Ereignisse, welche sich berechtigterweise auf beiden Ebenen als Umbruch bezeichnen und sich unter diesem Gesichtspunkt synergetisch harmonisieren lassen: Vom gönnerhaften Mäzenatentum profitieren die Künstler des Gesamtkunstwerkes, wie auch der Monarch jenes zur Stärkung seiner Kulturpolitik einsetzt. Die Ornamentik qua gattungsspezifisches Charakteristikum trägt maßgeblich zur Institutionalisierung der Ballettkomödie bei, mit der Folge, dass sie zum zentralen Angelpunkt der höfischen Festkultur des Roi Soleil wird.

      Ferner lässt sich der ephemere Charakter der Theateraufführungen auf die Lebenszeit des Genres übertragen, denn bereits nach nur zehn Jahren ändert sich der königliche goût. Der Herrscher wendet sich fortan vermehrt der Oper und anderen musikalischen Divertissements zu, die durch die Gründung der Académie royale de Musique im Jahre 1672 endgültig privilegiert werden. Dadurch werden die Ballettkomödien immer mehr verdrängt. Ein Jahr später sollte Molière beim vierten Auftritt des Malade imaginaire am 17. Februar 1673 das Zeitliche segnen, während zeitgleich – so die Legende – Lully seine erste französische Oper Cadmus et Hermione aufführte.10 Dieser fast schon symbolische Tod Molières wird kulturpolitisch dadurch besiegelt, dass der Italiener mit dieser Aufführung den Geschmack des Herrschers trifft, ihm daher der Palais Royal zur Verfügung gestellt wird und die Theatertruppe weichen muss. Nach diesen Ereignissen verschwindet die Gattung im Wesentlichen von der Bühne. Einige spätere Imitationen von Thomas Corneille wie L’inconnu11 (1675) erinnern an das Genre, werden jedoch nicht für das große höfische Divertissement, sondern für das Theater Guénégaud komponiert. Auch Autoren wie Florent Dancourt, Jean-François Regnard oder Charles Dufresny, deren Werke12 an das molièresche Modell der hybriden Komödie erinnern, erreichen nie dieselbe Aufmerksamkeit wie sie Molière zuteilwurde. Diese Theaterstücke können nur im weiten Sinne als Fortsetzung der Gattung verstanden werden, weil sich Molières Ballettkomödien gerade auch über das Exklusivitätsmerkmal der Einbettung in die höfischen Feste definieren. Aus ästhetischer Sicht ist die Tatsache, dass Molière die Möglichkeiten der Gattungshybridität gänzlich ausschöpft und perfektioniert für den Niedergang der Ballettkomödie verantwortlich:

      [B]ien que les dramaturges cherchent souvent à lier les agréments à la comédie, à son sujet et à son intrigue, ils ne parviennent jamais ni à cette nécessité profonde de l’union des arts, ni à cette unité qui embrassaient chez Molière les contrastes pour produire une signification originale.13

      Eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieses Komödientypus führte zwangsweise zur opéra im Musiktheater und zum ballet d’action14 im Tanztheater beziehungsweise zur opéra-ballet15. Wenngleich der Prunk der Ballettkomödie nicht lange glänzt, so ist das Dodekameron doch ein Markstein in der Entwicklung des lyrischen Theaters. Guy Spielmann erscheint es daher unmöglich, die Komödie am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. ohne ihre Orientierung am théâtre lyrique zu verstehen: „[D]ans les années 1690, […] la grande majorité des comédies comportait alors des éléments musicaux.“16 Ferner wird Molières Totaltheater über das klassische Zeitalter hinaus kleinere Hybridgattungen wie das Vaudeville, das Singspiel, die Operette und das Musical beeinflussen – alle streben nach einer Verbindung und einem Kompromiss von gesprochenen und gesungenen Textpartien.17

      1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft

      Die aus einer Gattungsfusion entstehende neue Gattung charakterisiert sich aufgrund ihrer diversen Einflüsse durch ihr hybrides Substrat. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wo die Ballettkomödie innerhalb der Gattungslandschaft zu situieren ist. Die neue Künstepluralität bringt die Theaterinszenierungen der damaligen Zeit an ihre Gattungsgrenzen, was sich im dargestellten Denominationschaos teilweise noch heute reflektiert; sie durchbricht habitualisierte Wahrnehmungsformen und Gattungsschemata. Aufgrund dieser Grenzsituation ist der Übergang zur Oper sicherlich fließend und die Ballettkomödie wird unter diachronem Gattungsaspekt als Vorform der französischen Oper bezeichnet.1 Obschon sich die Oper durch eine Multimedialität definiert, erscheint es sinnvoll, die comédie-ballet der Dramatik und damit dem Sprechtheater zuzuordnen. Diese Klassifikation begründet sich nicht nur ob ihrer historischen Tradition, sondern auch ob der Einteilung der unterschiedlichen Theatergattungen nach der Repräsentationsart des zentralen Trägers, dem überwiegend sprechenden, singenden oder tanzenden Darsteller. Demzufolge gehört die Ballettkomödie zum Sprechtheater und die Oper zum Musiktheater. Das Kriterium der Hauptrepräsentationsart zeigt zudem, dass die Verortung der Ballettkomödie innerhalb des Tanztheaters auszuschließen ist, wobei die Balletteinlagen allein betrachtet ausschließlich diesem Theatertypus zuzuordnen wären. Molières Bezeichnung seiner Intermedien als ornements verrät in gleichem Maße, dass das Wesentliche der Ballettkomödie die Komödie bleibt, der dramatische Dialog. Die zeitgenössische Aufführungspraxis zeigt darüber hinaus, dass die musikalischen und tänzerischen Intermedien häufig gestrichen wurden. Der zentrale Angelpunkt des Multimediaspektakels ist sonach die Komödie, die im Gegensatz zu den Intermedien immer inszeniert wurde. Der Hybridität der comédie-ballet geschuldet handelt es sich nicht um die reinste Form des Sprechtheaters, da die Künstepluralität die Klassifizierung der Ballettkomödie als einfaches Sprechtheater ebendieses an seine Einteilungsgemarkung stoßen lässt und es in die Nähe von Musik- oder auch Tanztheater bringt. Die mediale Trias ermöglicht eine individuelle Mischung, die die einzelnen Ballettkomödien zu autonomen Unikaten künstlerischen Ausdrucks macht; die Ballettkomödie definiert sich als Gattung durch die Mischung ihrer Repräsentationsarten.

      An dieser Stelle ist noch explizit auf die hierarchische Verortung der Ballettkomödie innerhalb der Gattung der Dramatik einzugehen. Diese literarische Hauptgattung verzweigt sich in der französischen Klassik grundlegend in Tragödie und Komödie,2 eine Differenzierung, die ihrerseits variable Gestaltungsmöglichkeiten in sich birgt. Die herausgearbeiteten Elemente zur Gattungspoetik lassen erkennen, dass sich die Ballettkomödie als Subgattung der Komödie verstehen lässt. Die paradigmatische, serielle Struktur der Komödie erleichtert die Einbindung der Intermedien.

      Weitere Probleme bei der Klassifizierung des Genres ergeben sich aus seiner Thematik, da die Untergattungen zumeist am Komödiensujet und nicht an ihrer medialen Struktur gemessen werden. Streng genommen müsste man deshalb die meisten Ballettkomödien ebenso als Charakterkomödien bezeichnen, um ihre Sujetstruktur entsprechend zu respektieren, wenn eine comédie de caractère folgendermaßen zu definieren ist: „Pièce, genre, où l’auteur met en lumière en les exagérant certains travers de ses personnages et, à partir d’eux, de la société.“3 Die komischen Helden der Komödien sind sozial besetzt und daher keine Typen, da sie dank einer Fülle von Details in ihrer Zeit verwurzelt sind.

      Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint es angebracht, beim Dodekameron vorrangig von Ballettkomödien zu sprechen und erst an zweiter Stelle von Charakterkomödien, da es sich bei beiden Subgattungen der Komödie um unterschiedliche Komikästhetiken und mediale Strukturen handelt, die selbst dann nicht pauschalisiert werden sollten, wenn sie inhaltlich ähnlich strukturiert sind. Ferner ist die Entwicklung von der Komödie zur Ballettkomödie im Rahmen von Molières Gesamtwerk als eine Reflexion über die Grenzen der klassischen Komödie im normativen und unangreifbaren Regeldiskurs des zeitgenössischen Gattungsspektrums zu verstehen. Die


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