Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch


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entstanden gerade durch eine Transgression der engen Gattungsgrenzen, wie Reinhard Krüger feststellt.4

      Die französische Bezeichnung comédie-ballet spiegelt die Zugehörigkeit und Spezifität der Untergattung stärker wider als das deutsche Kompositum. Diese Zuordnung wertet den Dramentext in seiner Gesamtheit auf und somit auch die schriftstellerischen Qualitäten Molières, die teils in den Schatten der Gesamtdarstellung rücken, weil man bei den Ballettkomödien den Eventmanager gern vor dem Poeten sieht:

      Toute la richesse de ce genre de spectacle tient dans sa représentation. [L]a comédie de Molière est d’une autre essence. Le poète y domine, il n’est jamais à ce point assujetti au peintre, au machiniste, au danseur ou au musicien. Et si sur la fin de sa carrière il songe davantage à satisfaire la vue et l’ouïe de son public, cette promotion du spectaculaire, accomplie dans un esprit de recherche et dans l’espoir de parvenir à un art total et multidimensionnel, ne nuit en rien à la suprématie de son texte.5

      Zusammenfassend kann am Ende dieses Kapitels eine Gattungsdefinition der comédie-ballet von Molière gegeben werden. Die Ballettkomödie ist zunächst und vor allem ein fester Bestandteil absolutistischer Kulturpolitik und reflektiert in ihrer Eigentümlichkeit den goût mondain. Die Originalität der Subgattung der Komödie zeigt sich überdies darin, dass in den Verlauf der Geschichte musikalische und tänzerische Intermedien eingearbeitet sind. Sie sind kunstvoll mit der Komödie sowohl über die Dramen- als auch die Sujetstruktur verzahnt und treten in der Regel um die Akte herum auf, sodass sie als dramatisierte und theatralisierte ornements satellites essentiels der Komödie zu begreifen sind. Hierzu zählen kleine Sketch-Einlagen, einfache Tänze, Pantomimen, Chöre, Musikstücke, Rezitationen/Allegorien, Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge, bukolische Pastoralen und große karnevaleske Zeremonien. Das szenische Bühnenbild der comédie-ballet ist äußerst dynamisch und alterniert zwischen Komödie und Ballett. Das Totaltheater zeichnet sich durch einen nouveau langage théâtral aus, der eine gattungsspezifische Organisationsform von Kommunikationsprozessen generiert. Dieses neue Intermedialitätskonzept umfasst die drei Ausdrucksformen Sprache, Musik und Tanz und evoziert eine innovative Komikästhetik im klassischen Theater. Aufgrund ihrer Familienähnlichkeit sind Molières zwölf Ballettkomödien unter dem Begriff des Dodekamerons zusammenzufassen.

      2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie

      Im Hinblick auf eine differenzierte Komikanalyse der Ballettkomödie ist es unentbehrlich, ihre Dramen- und Sujetstruktur zu untersuchen, da diese beiden Strukturen das funktionale Möglichkeitsspektrum der Gattung abstecken und den Rahmen des komischen Agons setzen. Hierzu verlangt die Ballettkomödie in Anbetracht ihres besonderen strukturellen Aufbaus ein Modell, das versuchen sollte, das Gesamtkunstwerk als solches zu betrachten, mithin Komödie und Intermedien gleichermaßen miteinzubeziehen. Es ist neben der Analyse der Ballettkomödie als Ganzes entscheidend, die Dramen- und Sujetstruktur der Aktend- wie auch der Aktanfangsszenen der Komödie in den Fokus der Analyse zu stellen. Diese fungieren als mediale Schnittstellen und tragen zum Verständnis des unitären Charakters der Werke bei: Die Ballettkomödie zeichnet sich durch eine zum poetologischen Programm gewordene Integration der Intermedien in die Komödie aus. Diese Zusammenführung bedarf einer reziproken Verankerung von Dramen- wie auch Sujetstruktur, um dem Anspruch auf Geschlossenheit nachzukommen. Es ist davon auszugehen, dass die Annabelung der Intermedien an die Komödie über eine dramatische Notwendigkeit und/oder eine thematische Ähnlichkeit erfolgt. Sie können die Komödienhandlung durch Weiterführung, Spiegelung, Parodierung und thematische Kontrastierung bereichern sowie selbst zu einer Modifikation der histoire beitragen.

      Ziel dieses Modells ist es, das strukturelle Wesen des komischen Agons in der Ballettkomödie aufzuspüren. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass der komische Agon über gattungsspezifische Kommunikationsebenen vermittelt wird und sich aus diversen Sujetschichten speist. Wie der Akt der Homogenisierung von Komödie und Intermedium im Einzelnen geartet ist und welche Akzente Molière mit seinen Intermedien für die Komödienhandlung setzt, soll nach Vorstellung des Strukturmodells am Korpus der Ballettkomödien aufgezeigt werden.

      2.1 Dramenstruktur

      Mein Entwurf einer Dramenstruktur für die Ballettkomödie orientiert sich zunächst an einem allgemeinen Strukturmodell für das Theater der französischen Klassik, das Wolfgang Matzat in den 1980er Jahren entwickelte. Die Grundüberlegung seiner rezeptionsästhetischen Theorie besteht darin, die Dramenstruktur aus der Kommunikationssituation des Theaters und den Prozessen der Transmission abzuleiten. Er geht davon aus, dass der geschriebene Text nicht als eine von der Aufführung unabhängige Strukturebene angesehen werden könne, denn das Aufführungsgeschehen sei bereits im dramatischen Text angelegt.1 Diese Ausgangslage erfordert ein Kommunikationsmodell, das die Zuschauerrolle fokussiert, den Zuschauer ins Zentrum aller Vermittlungsvorgänge stellt. Das Artefakt und sein Sinngehalt konkretisieren sich erst in der Verschmelzung mit dem Erwartungs-, Verständnis- und Bildungshorizont der Rezipienten, die durch rezeptive Codes psychologischer, ideologischer und ästhetischer Art beeinflusst werden.2 Somit sind die vermittelnden Kommunikationsebenen immer auch Rezeptionsperspektiven des Dramas. Daran anknüpfend lassen sich aus Eric Bentleys Theaterformel zur Kommunikationssituation im Drama – „The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on“ –3 folgende Erkenntnisse ziehen: Es gibt ein äußeres (A–C) sowie ein inneres (B1–B2) Kommunikationssystem und beide überlagern sich; die Inhaltsdarstellung findet über die interne fiktive Rede der Figuren statt und die inszenatorische Realisierung setzt sie in externes wirkliches Spiel um;4 auf dieser Grundlage ergibt sich die Kommunikationssituation von drei sich überlagernden Kommunikationsebenen – einer dramatischen (B), einer theatralischen (A) und einer lebensweltlichen (C) –, deren kommunikative Transmission aus ihrer dynamischen Interaktion resultiert. Es wird zu zeigen sein, wie dieses Konzept auf die Ballettkomödien mit ihrer komplexen Kommunikationssituation abgestimmt werden kann.

      2.1.1 Die dramatische Kommunikationsebene – die figurale Interaktion

      Die dramatische Kommunikation findet im inneren Kommunikationssystem statt und setzt den Fokus auf die Interaktion der Figuren auf der Bühne. Zu ihr gehören die Intrige und die Handlungswelt. Die Einzelintrigen konstituieren die Gesamtintrige, die ihre Kohärenz durch das übergeordnete Ereignis des die Handlungen bündelnden Sujets zugesprochen bekommt.1 Die Gesamtintrige beruht auf der Gesamtheit erwartungsstiftender Elemente, sodass die Intrige auch als Mittel der Sympathielenkung des Zuschauers fungieren kann. Diese Intention gelingt, wenn er Akzeptanz und Bereitschaft zeigt, eine personengebundene Perspektive einzunehmen. Dieser Aspekt der Intrige macht deutlich, dass sie nicht mit der Ebene des Sujets gleichzusetzen, sondern ihr ein vermittelnder Charakter zuzusprechen ist, besteht ihre Funktion doch darin, das Sujet in dramatischer Weise zu beleben.

      Die zweite Konstituente der dramatischen Ebene besteht aus der Handlungswelt. Sie etabliert aus den figuralen Handlungs- wie auch Sprechsituationen ein illusionistisches Raum-Zeit-Kontinuum, indem sie aus den dargestellten Räumen eine Raumstruktur aufbaut, aus den dargestellten Zeitabschnitten eine Zeitstruktur errichtet und durch die auftretenden Personen eine soziale Welt entstehen lässt.2 Die Flexibilität des dramatischen Dialoges ermöglicht es zusätzlich, nicht dargestellte Lokalitäten, Zeiträume und Personen mittels sprachlicher Verweise in die Handlungswelt zu inkorporieren. Die Funktion der dramatischen Ebene erschöpft sich darin, das Sujet zu aktualisieren. Sie erreicht dies durch eine Dramatisierung der Sujetbewegung in Gestalt der Intrige und durch die Dramatisierung des Sujetfeldes in der entworfenen Handlungswelt.3 Die beiden Konstituenten der dramatischen Kommunikationsebene bilden gemeinsam ein binnenfiktionales Bezugssystem, auf das die jeweiligen Handlungssituationen übertragen werden können und das den Zuschauer durch Identifikation wie auch Illusion dazu einlädt, an der fiktionalen Welt zu partizipieren.

      2.1.2 Die theatralische Kommunikationsebene – die Interdependenz von Spielen und Schauen

      Die theatralische Kommunikation findet


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