Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

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ihres Weltbezuges40 verdichten narrativ die Orientierungs- und Haltlosigkeit von Subjekterfahrungen in der modernen Welt. In der kulturgeschichtlichen Terminologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen des im oben dargelegten Sinne existenzialistischen und innerweltlich transzendenten Erzählens. Die vier Romane stellen zusammen mit der Frage nach Herkunft und Zukunft moderner Identitätserfahrungen auch die Frage nach dem Sinn romanhaften Erzählens in der Moderne. Sie gestalten gegensätzliche Figuren und Erzählsituationen mit spiegelsymmetrisch geheimen Verwandtschaften. Multiperspektivisch erforschen sie Facetten der modernen transitorischen Identitätsproblematik, die angesichts signifikant Anderer virulent wird, und sie regen über diese strukturellen Ambivalenzen zum hermeneutisch-kritischen Diskurs an. Der abschließende Teil dieser Arbeit zieht ein Fazit und gibt Hinweise auf Forschungsdesiderate, deren Bearbeitung einen Paradigmenwechsel in der kultursemiotisch orientierten Literaturwissenschaft herbei führen könnte.

      

      Teil 1

      Moderne Romane als Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas

      1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne

      Warum Romane lesen, die in Großbritannien im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden – ausgewählte Romane von Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë und von Virginia Woolf? Was bieten diese Romane Rezipient/innen, die an der Goethe-Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M Literaturseminare im Fachbereich Anglistik freiwillig und aus Interesse besuchen?

      Zum einen eröffnen die Erzählwelten Einblicke in eine zurückliegende Kultur, die bis in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich setzen sie eine selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung in Gang, in der die Rezipient/innen, im Erschließen dieser Erzählwelten, ihre Werte und Normen aufs Spiel setzen. Sieht man mit Jürgen Straub persönliche Identität als normativen und sozialen Anspruch, den Individuen zwar an sich selbst stellen, aber auch wissen, dass sie ihn nicht erfüllen können,1 so kommen im Erschließen der Erzählwelten Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, der Autonomiebildungsmöglichkeiten und ihrer Vorenthaltungen oder Verhinderungen ins Spiel, die im Horizont eines Sich-in-der Zeit-Verstehens, anhand komplexer Erzählfiguren und ihrer Einbindung in die jeweilige Gestalt der Erzählwelten erarbeitet und ästhetisch erfahren werden können.

      Wie alle modernen Romane gestalten auch Romane, die seit Beginn der Moderne um 1750 in Großbritannien entstanden, Erforschungen des Ich, in die das Paradoxon persönlicher Identitätserfahrung in der Moderne eingelassen ist.

      Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott fasst dieses Paradoxon als Kommunikation des sozialen Selbst mit einer nicht-kommunizierbaren Energie des persönlichen Selbst. Diese Energie muss sich der Mensch bewahren, will er nicht zum außengelenkten, falschen Selbst werden. Sie macht seine Menschlichkeit aus, die die Gesellschaft als sein Heiligtum unangetastet lassen sollte:

      Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und höchst bewahrenswert ist (…). (Ich) glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt werden darf (…). (Jedes Individuum ist) in ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden.2

      Das von Winnicott formulierte Paradox persönlicher Identitätserfahrung besteht demnach darin, dass im individuellen Allein-sein-Können „eine außerhalb des einzelnen liegende Bedingung (…), eine soziale Bedingung“3, zur Geltung kommt, die im Zusammenspiel von Selbstakzeptanz, Verhandelbarkeit persönlicher Identität und selbstorganisertem Leben, den potenziellen Raum des Selbst zwischen sich und signifikanten Anderen öffnet.

      Nach Jürgen Straub besteht das Paradox persönlicher Identität in sozialpsychologischer Weiterführung darin, dass es die Erfahrung „(…) einer Einheit (ist), die unabschließbar, entzweit, unangreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreichbar bleibt.“4

      Im Laufe eines Entwicklungs- und Bildungsweges entstehen individuelle Handlungspotenziale, die, weil sie sich in Interaktionen mit signifikanten Anderen entwickeln, komplexe und reiche Identitätsbildungsmöglichkeiten entstehen lassen, die Konstrukte einer tautologischen Identität als Sich-Selbst-Gleichheit nicht ermöglichen. Persönliche Identität, so Straub, „meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität“, die die Handlungspotenziale einer Person konstituiert und ihre Verhaltensweisen motiviert.5 Mit Erikson grenzt Straub eine für Erfahrungen offene persönliche Identität von einer Identitätsdeutung ab, die Identität als totalitär strukturiertes Zwangs- und Gewaltverhältnis sieht.6 Aus der Unterscheidung von Totalität und Identität gewinnt Straub das Konzept „transitorische(r) Identität“7, dessen konstitutives Elemen ein „unhintergehbare(r) Selbstentzug“ ist,8 der in diachroner und synchroner Differenzierung zur Grundlage einer offenen und kreativen Persönlichkeit mit der Fähigkeit zur Selbsttranszendierung wird.9

      Aus dieser resultiert ein Weltinteresse, das menschliches Leben nicht als funktionales Teilelement eines übergreifenden Zusammenhanges sieht, sondern als Sinn-Ganzes entwirft:

      Jedes menschliche Leben ist (…) ein Sinn-Ganzes. Der einzelne hat selbst seine Handlung in einem unbedingten Sinne zu verantworten. Sogar wenn er versuchsweise handelt, experimentell, sogar wenn er die Folgen seiner Handlung nicht absehen kann, so ist doch die Tatsache, daß er hier und jetzt dies oder das getan hat oder nicht getan hat, ein unwiderrufliches Faktum und als solches für immer Bestandteil seines Lebens. Als solches hat er es zu verantworten.10

      Aus der Ambivalenz der Moderne, dass wir gleichzeitig um die Determiniertheit wissen, die uns in übergreifenden Zusammenhängen als Teilmomente hält und der menschlichen Freiheit als radikaler Unabhängigkeit, folgt nach Robert Spaemann die individuelle Erkenntnis, dass es kein voraussetzungsloses Handeln gibt und man aus gegebenen Bedingungen das Bestmögliche, auch hinsichtlich ihrer dringenden Veränderungen, machen sollte. Da Handeln immer auch sich loslassen können, seine Intentionen aus der Hand geben können, bedeutet, ist Gelassenheit gegegenüber Geschehenszusammenhängen und gegenüber einer erfahrungsoffenen Zukunft, eine Vernunftshaltung, die vor Resignation bewahrt und zur Bedingung eines geglückten sinnbezogenen subjektiven Lebens werden kann.11

      Martin Seel bezeichnet diese Paradoxie als Erfahrung persönlicher Autonomie, die sich selbst in reflektierter Akzeptanz des sie Bestimmenden bestimmen kann.12 Susan Neiman versteht unter persönlicher Autonomie die Fähigkeit und den Mut erwachsen zu werden, ein Gespür für den eigenen Charakter zu entwickeln, weil „Integrität (…) niemals statisch (ist); dazu ist sie zu leicht zu verlieren.“13

      Auch archaische Mythen und Feste – verstanden als Augenblicke „gesteigerter Lebensintensität“14 – sowie Kunstwerke, die wie Feste zum Verweilen einladen,15 verwandeln gesellschaftliche Funktionszusammenhänge in holistische Erfahrungen. Ganzheitlichkeit liegt als Weltinteresse und Erfahrung immanenter Transzendenz, die sich der Ambivalenz in Bezug auf die Dignität menschlicher Würde und menschlichen Lebens stellt,16 in mythopoetischer Gestaltung modernen Romanen zugrunde.17

      Ernst Tugendhat definiert immanente Transzendenz als Fähigkeit des modernen Menschen, sich seine Werte in nachmetaphsischer Zeit selbst erschaffen zu können:

      Statt vorgegebene, scheinbar übersinnliche Werte zu befolgen, soll der Mensch jetzt seine Werte selbst schaffen. Das bedeutet, daß das Transzendieren auf einen Sinn hin in das Innere des menschlichen Seins zurückgenommen wird. Man kann also (…) von einer immanenten Transzendenz sprechen, von einem Übersichhinausgehen, das nicht mehr ein Übersichhinausgehen zu etwas Übersinnlichem ist, sondern ein Übersichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen.18

      Immanente Transzendez, mythopoetisch gestaltet, öffnet in den hier ausgewählten Romanen in Bezug auf Altersgelassenheit, Kreativität und Erfahrungen der Gerotranszendenz hermeneutische Reflexionsräume für Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Gerhard Kaiser sieht die transzendierende Wirkung moderner Literatur in ihrer Eröffnung von Möglichkeitsräumen: Die Werke der Moderne „wollen dorthin, wo sie


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