Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


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Leser/innen mit ihnen machen, verstanden werden müssen. Ästhetische Erfahrung wird zur transformativen Energie, die den Horizont der Rezipient/innen, unter Rückbezug auf das individuelle Vorverständnis, für Neues öffnet.1

      Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne geben ihren Protagonistinnen und Protagonisten als Waise und Außenseiter Gestalt. Mit Helmut Plessner und Karl Jaspers formuliert, symbolisieren sie die exzentrische Positionalität des Menschen in Grenzsituationen. Auf der Suche nach dem Ich, die diese Romane als transitorisches Werden zu sich selbst gestalten, werden sie mit Erfahrungen des Leidens, der Krankheit, des Kampfes um Liebe, des Zufalls und des Todes konfrontiert. Hunger, Kälte und Illusionsverlust kommen hinzu.

      Nach Karl Jaspers sind dies keine philosophischen, sondern existenzerhellende Grenzsituationen des Menschen, denen man nicht ausweichen, die man aber mit dem Mut zum Neubeginn bewältigen kann.2 Das trifft auch auf den eigenen Tod zu:

      Der Tod ist nur als ein Faktum eine immer gleiche Tatsache, in der Grenzsituation hört er nicht auf zu sein, aber er ist in seiner Gestalt wandelbar, ist so, wie ich jeweils als Existenz bin. Er ist nicht endgültig, was er ist, sondern aufgenommen in die Geschichtlichkeit meiner sich erscheinenden Existenz.3

      Grenzsituationen als lebendige Notwendigkeit erfahren, heißt folglich, sie zum Eigentlichen unserer Existenz werden lassen: „(…) wir werden wir selbst, wenn wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Sie werden, dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe. In der Hilflosigkeit des Daseins ist es der Aufschwung des Seins in mir.“4

      Die Nicht-Endgültigkeit der Endgültigkeit des menschlichen Todes stellt ein Paradoxon dar: Zwar macht jeder Mensch die Erfahrung, dass andere Menschen sterben können, aber die Bedeutung von Tot-Sein kann man nicht erfahren.5 Jaspers bringt die Erfahrungen der Grenzen menschlichen Daseins, auch das Paradoxon der menschlichen Todeserfahrung, in den Zusammenhang der Fähigkeit des Menschen zur immanenten Transzendenz: Der Einzelne könne, so Jaspers, als Teil einer Gesamtheit, mit der er kommuniziere, seine Existenz verstehen. Menschsein entstehe aus Krisenerfahrungen, nämlich in der individuellen Fähigkeit zu freier Selbstschöpfung.6 Eine analoge Weltdeutung findet sich in Virginia Woolfs Werk, in Varianten aber auch in den anderen hier vorgestellten Romanen.

      Die jeweilige Form der Romane nimmt Grenzerfahrungen menschlicher Existenz und ihre narrativen Aufschwungs- und Lösungsmöglichkeiten in ihre kontingenzästhetische und multiperspektivische Struktur als fiktionale Existenzerhellung auf. Die jeweilige erzählerische Form wird zum fiktionalen „Wagnis des Lebens“7 und damit zum interessanten, spannenden, unterhaltsamen, die Gefühle und kognitiven Fähigkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters anregenden Lektüre- und Diskursangebot.

      Sie können ein großes Spektrum menschlicher Grenzsituationen, in denen sich die Protagonisten der Romane befinden und ihre Bewältigungsmöglichkeiten, erschließen: Im Oliver Twist als Todeserfahrungen im Leben, in Jane Eyre als drohende Existenzvernichtung, in Wuthering Heights als archaische Gegenperspektive gegen viktorianische bzw. bürgerliche Ordnungsvorstellungen, bei Virginia Woolf als „Zeitlichkeit und Veränderlichkeit“8 des individuellen Lebens, in seiner Ambivalenz von Leben und Tod.

      Ins Spiel kommen dabei Fragen der Alternsidentität, die, nach Erikson, an die Aufgabe gebunden sind, das eigene Leben in seiner Gesamtheit als stimmig zu erfahren und in seinen positiven wie negativen Aspekten als einmalig, unumkehrbar und endlich zu bejahen.9 In der Weiterführung der Entwicklungstheorie Eriksons hebt Andreas Kruse mit Günter Anders und Hans Thomae hervor, dass Identitätserfahrungen im Alter durch Offenheit, als „Fähigkeit und Bereitschaft (…), sich von der Welt berühren, beeindrucken, ergreifen zu lassen“, entstehen. Daraus folgen „Mitverantwortung“ für die Welt und ihre Veränderungsmöglichkeiten und Dispositionen für „im Lebenslauf entwickelte (…) neue Möglichkeiten und Anforderungen“.10 Entscheidend ist hierbei, dass im Alternsprozess eine „tragfähige Lebensperspektive“ entwickelt werden kann, die sich in Bezug auf die verbleibenden Jahre des Lebens als positive Lebensbewertung und als Wunsch nach sozialer Teilhabe äußert.11 Dieses Konzept der Generativität im Alter, das sich familiär und gesellschaftlich verwirklichen kann, ist in engem Zusammenhang mit Identitätstheorien zu sehen, in deren Zentrum Erfahrungen der transitorischen Identität und ihre Möglichkeiten der Selbstorganisation subjektiven Lebens in der Moderne stehen.

      Die mit Industrialisierung, Kapitalisierung und unterschiedlichen Strömungen von Individualisierung entstandene Moderne, die sich durch das lange 19. Jahrhundert erstreckte, wird von Soziologen und Kulturkritikern, wie Charles Taylor, Peter Gay, Ulrich Beck, Anthony Giddens, Axel Honneth, mit einer reflexiven, sich ständig revidierenden Moderne, dem Verlust stabiler Wertorientierungen, extrem gesteigerter Auswahlmöglichkeiten, mit Reflexionen auf transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und transformatorischen Bildungschancen in Verbindung gebracht.

      Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts generieren das Paradigma moderner, transitorischer Identität: „The fact that so many novels centre on a search, quest or voyage suggests that meaning is no longer given in advance.”12

      In Bezug auf Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten in der Moderne spricht Jürgen Straub, wie oben erläutert, von unabschließbaren Ambitionen, die aktiv keine Kohärenz des Selbst herbeiführen. In der Auseinandersetzung mit den Romanen wird das Selbst als Fremdes, als Anderes, als nicht einholbarer, konstitutiver Selbstentzug, der kreative Potenziale und Möglichkeiten der Selbsttranszendierung freisetzen kann, thematisch.13

      Der Individualismus hatte sich in England bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Blüte entwickelt und war hauptsächlich männlich konnotiert.14 Fragen nach „moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft“15 wurden nicht systematisch gestellt. Sie wurden von Intellektuellen in Bezug auf den Homo oeconomicus als Persönlichkeitstypus, nicht aber in Bezug auf soziale Verelendung und Ausbeutung durch Freisetzung privater Profitinteressen diskutiert.16 Sie tauchten als Skizzen eines moralischen Ökonomismus bei Adam Smith, Hegel, Durkheim und Marx auf.17 Die seit dem 18. Jahrhundert publizierten englischen Romane jedoch gingen in Varianten der Frage nach, ob ökonomisch, d.h. in der Sprache der Romane, malevolent strukturierte Machtasymmetrien moralisch legitimiert seien und ob der Typus des Homo oeconomicus nicht mit der „Gefahr einer allmählichen Aushöhlung sozialer Bindungen verknüpft sei“.18 Im Möglichkeitsraum der Fiktion entwarfen Romane Vorstellungen individueller Autonomiebildungsmöglichkeiten und brachten diese Fragen, im 19. Jahrhundert über die Paradoxie des poetischen Realismus, wie zu zeigen sein wird, als Herausforderungen in den öffentlichen Diskurs ein.19 Im 19. Jahrhundert verdichteten Romane die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus, die sich „(…) zwischen dem an universalisierbaren Werten orientierenden Verständigungs- und Geltungsanspruch demokratischer Politik einerseits und der sich demokratischer Politik und moralischer Gestaltung entziehenden Dynamik des Kapitalismus andererseits (…)“ als „Dauerproblem“ aufspannte20 und, wie Peter Gay dies nennt, ein normatives Vakuum erzeugte.21

      In ihrer narrativ subjektiven Perspektivierung der Kulturkrise, die sie 40–50 Jahre vor ihren Publikationsdaten, meist in der Mitte des 18. Jahrhunderts, ansetzen, sind Romane des Viktorianischen Zeitalters Teil des modernen Literatursystems.22 Sie konfrontieren – wie auch die Romane, die der klassischen Moderne zugerechnet werden – die Diskrepanz des modernen Kapitalismus und die mit ihr einhergehenden Problematik des normativen Vakuums kontingentästhetisch und multiperspektivisch.

      Rezipient/innen des dritten Lebensalters können diese Romane als kulturelle Gedächtnismedien über die Fähigkeit zur Aktiven Imagination refigurieren, wenn sie deren paradoxe bzw. multipersektivische narrativen Strategien erschließen und auf die epochale und ästhetische Differenz dieser fiktionalen Möglichkeitsräume zu heutigen individuellen Akten kulturellen Erinnerns reflektieren. Bei der Erschließung dieser Romanwelten kommen komplexe moderne Entfremdungserfahrungen, die „wirklichkeitsgeneriernd“23 das Erzählen des Erzählens hervorheben, ins Spiel. In narrativen Konstruktionen, die das Geschehen allererst erzeugen, erkunden Romane das moderne Selbst, loten Möglichkeiten seiner Handlungsspielräume und persönlicher Autonomie aus und dringen zu „Zonen des Vor- und Unbewussten


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