Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


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– auch bei Autoren, wie beispielsweise Charles Dickens, in dessen Werk kein Roman dem anderen gleicht –, so dass man von einer einheitlichen Gattung Roman nicht sprechen kann.25

      In der Refiguration moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters, wird die Komplexität des modernen Ich, werden Gattungsmuster erschließbar, die Entwicklungsverläufe unterschiedlichster Art, bzw. archetypische Formen wie Komödie, Tragödie, Satire, Melodrama26 und ihre – besonders bei Charles Dickens ausgeformten – Mischformen zum Ausdruck bringen. Die kontingenzästhetische Multiperspektivität der Romanwelten bringt moderne Erfahrungen der transzendentalen Obdachlosigkeit (Georg Lukács) und die daraus folgenden Pathologien der Angst, der Verlusterfahrungen und Bedrohung zum Ausdruck; in Romanen des Viktorianischen Zeitalters in den Modi des Unheimlichen, der Groteske, des Erhabenen, des Grotesk-Erhabenen mit kathartische Lösungsmöglichkeiten im Modus des Märchenhaften oder der Märchen-Groteske, in Romanen der klassischen Moderne in den Modi des Selbstverlustes und der Selbsttranszendenz.

      Charles Taylor leitet das in den Romanen gestaltete moderne Identitätsparadigma aus unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Quellen her.27 Taylor entwirft drei Elemente oder Facetten des abendländischen Identitätsparadigmas: Das erste ordnet er dem Platonimus zu. Identität ist kosmologisch orientierte Innerlichkeit und an der Ordnung eines guten Lebens orientiert.28 Das zweite Element ordnet er Descartes‘ Erkenntnistheorie zu. Dieses Paradigma des distanzierten Subjekts entsteht in der Übergangszeit zwischen Augustinus und Descartes. Sein Merkmal ist eine radikale Reflexivität, die von eigenen Ideen, statt vom äußeren Sein ausgeht. Im Unterschied zur augustinischen Innerlichkeit verlegt Descartes die sittlichen Quellen in den Menschen selbst.29 Diese Verlagerung sittlicher Quellen in Erfahrungen der Endlichkeit des Lebens bildet den Übergang zum dritten Element des Identitätsparadigmas, in dem das „ganze menschliche Leben (…) nun in Begriffen von Arbeit und Produktion einerseits und Ehe und Familie andererseits definiert (wird).“30 Es entsteht die bürgerliche Ethik, die mit ihren Idealen der Gleichheit, ihrem universellen Rechtsgefühl, ihrem Arbeitsethos, ihrer Unterstützung von Erwerb und Handel, ihrer Normierung sexueller Liebe und Familie, eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Das sich in der Romantik herausbildende bürgerliche Subjekt ist mit den widersprüchlichen Herausforderungen von Fortschritt, Sinnsuche und Lebensbejahung konfrontiert, die aus dem Dilemma zwischen instrumenteller Vernunft und kreativem Schöpfertum resultieren.31 Die „Synthese dieser Bejahung des normalen Lebens mit der Vorstellung des distanzierten Subjekts“32 ist das wesentliche Paradigma moderner Identität, „nach dessen Maßgabe wir uns seither zu definieren haben.“33 Die Folge ist, dass mit dem Schwinden kosmischer Ordnungen von Ideen und theologischer Perspektiven das Gefühl in der Moderne wächst, „daß die Aufgabe das Leben zu bejahen und eine Quelle inneren Wertes zu finden, uns selbst zufällt.“34

      Persönliche Identität ist ein fester Bestandteil der modernen Zivilisation geworden. Es gilt: „Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzeptiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Umwelt, meiner Geschichte und meinem Schicksal öffnet.“35 Das moderne Paradigma einer Selbstdefinition, das im menschlichen Lebenslauf ausgebildet wird, kann unter der Bedingung immer wieder umdefiniert werden, dass es sich auf die Anerkennung der Anderen zu stützen vermag.36

      Anthony Giddens erläutert Selbstbestimmungsmöglichkeiten als kontextbezogene „self-actualisation“, nämlich als „balance between opportunity and risk“37, die es Individuen ermöglicht, ihre Lebenswege selbstverantwortlich auszuhandeln und zu gestalten. Giddens begründet diese Selbstverantwortlichkeit mit der Fragilität und Schutzlosigkeit des modernen Selbst: „Self-Identity becomes problematic in modernity in a way which contrasts with self – society relations in more traditional contexts; yet this is not only a situation of loss, and it does not imply either that anxiety levels necessarily increase.”38

      In Bezug auf Möglichkeiten einer Bildung transitorischer Identitäten in der Moderne folgert Giddens an anderer Stelle: „A person’s identity is not to be found in behaviour, nor – important though this is – in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going. The individual’s biography (…) cannot be wholly fictive. It must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ‘story’ about the self.”39

      Um einen Sinnbezug zu uns als selbstentzogenen Subjekten herzustellen, müssen wir in anwesenden oder abwesenden sozialen Kontexten vergangene und gegenwärtige Erfahrungen mit unseren Zukunftserwartungen verknüpfen.

      Axel Honneth führt in diesem Zusammenhang Paradoxien eines reflexiven Individualismus der Moderne ein, die er in Begriffe organisierter Selbstverwirklichung, bzw. in den Begriff dezentrierter Autonomie fasst.40 Unter dezentrierter Autonomie versteht Honneth eine von Kontingenz und Heteronomie bestimmte Form von Subjektivität und personaler Identität, deren Struktur so angelegt ist, dass „subjektübergreifende Mächte“ von Beginn des Lebenslaufs an zu „Konstitutionsbedingungen der Individualisierung“ und der Entwicklung persönlicher Autonomie werden.41 Persönliche Autonomie versteht Axel Honneth „(…) nicht als Gegensatz zu, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte“ des Unbewussten und der Sprache.42

      Seit den 1960er Jahren entwickelt sich in modernen Gesellschaften, durch sozialstrukturelle und sozialkulturelle Wandlungen bedingt, eine zentrale Paradoxie der Individualisierung der reflexiven Moderne, nämlich „das eigene Selbst genau dort zu suchen“, wo es kulturell, institutionell oder wirtschaftlich erwartet wird.43 Nach Honneth weist diese Paradoxie sozialgeschichtliche Ähnlichkeiten mit den sozialen Problemlagen auf, die im 20. Jahrhundert zur Herausforderung wurden – eine hohe Zahl Arbeitsloser und gesellschaftlicher Außenseiter, Konzerne, die ohne politische Kontrolle international agieren, Arbeitsimmigranten, die aus Armutszonen in die Metropolen strömen –, Herausforderungen, von denen man dachte, „dass sie zum erfolgreich bewältigten Erbe des 19. Jahrhunderts gehört“ haben.44 Hinzu kommen, so Honneth, „Formen sozialen Leidens“, die „ohne Vorläufer in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften sind“.45 Diese Formen wie Depressionen und Resignation entstehen aus Gefühlen innerer Leere, die mit einem sozialstrukturellen und sozialkulturellen normativen Vakuum verbunden sind. Dieses Vakuum zwingt Individuen zur Alternative zwischen erwarteter oder erzwungener Authentizität oder zur Flucht in hektische Betriebsamkeit bzw. in Resignation.

      Auch der niederländische Psychogerontologe Gerben J. Westerhof spricht gerade in Bezug auf Menschen des dritten Lebensalters von individuellen Erfahrungen eines „value gap“, der moderne Individuen in die paradoxe Situation bringt, sich selbst in Bezug auf ihre Vergangenheit als bedeutungs- und werttragend zu deuten, um daraus für ihre Gegenwart und Zukunft neue, bedeutungsvolle und werttragende Identitätsmuster zu konstruieren, die in sozialen Kontexten verhandelt werden können.46

      Die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus bestimmt bis heute transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten moderner Individuen. Deren dezentrierte Autonomie ist Ausdruck der Pathologie der reflexiven Moderne und vergleichbar mit Pathologien des 18. und 19. Jahrhunderts, die das sich herausbildende bürgerlichen Subjekt affizierten. Virulent bleibt die Frage nach der Souveränität und Mündigkeit heutiger Individuen,47 und nach dem persönlichen Umgang mit Erfahrungen des Selbstentzuges und der Selbstbestimmung.

      Wie oben dargelegt, fasst Martin Seel Selbstbestimmung als Modus des sich bestimmen lassens. Seel spricht davon, dass sich unsere Selbstbestimmung „notwendigerweise inmitten einer historisch entfalteten und sozial geteilten Welt vollzieht“48 und wir nur unter Anerkennung der Kräfte, die uns bestimmen, selbstbestimmt handeln können. Hier kommt die oben erläuterte Paradoxie des Identitätsbegriffs als aspirierter Einheit ins Spiel. Martin Seel nennt sie „die Freiheit der eigenen Bestimmung“ und begründet sie so: „Wer nicht in vieler Hinsicht bestimmt wäre, könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber eine eigene Bestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein ist ein konstitutiver Rückhalt von Selbstbestimmung.“49

      Die komplexe Motivlage von Menschen im dritten Lebensalter

      Menschen


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