Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


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Metropolen, der Diskrepanz und Grausamkeit des Kapitalismus und dem Bakrott kultureller Visionen neue ästhetische Gestalt.47

      Der Erste Weltkrieg mit seinen katastrophalen Ereignissen und Folgen leitete ein bisher unvorstellbares Zerstörungswerk der modernen industriellen und finanziellen Welt und normativer Zusammenhänge ein. Dieser Great War führte europaweit zu Folgen, die „die materiellen Lebensbedingungen, die sozialen und politischen Strukturen, die Wirtschaft und die Lebensformen etwa seit 1880 (…)“48 wandelten. In Großbritannien kam es zu einer kompletten Restrukturierung der Arbeitswelt. Mensch und Maschine gingen ein symmetrisches Bündnis ein, Europa verlor seine zentrale Stellung in der Politik; die menschliche Persönlichkeit, so Ernst Mach, wurde zur Fiktion:

      Destruction, loss and sorrow seemed to enter the world on a scale unknown before, the war creating ‚horrors that make the old tragedies seem no more than nursurey shows‘ as Rebecca West puts it in the Return of the Soldier (p. 63). Sigmund Freud worked out his principle of thanatos, the death wish, during the war and believed that his contemporaries might never see a joyous world.49

      Stevensons Anspielung auf Freuds Kulturpessimismus, den Freud u.a. in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (i. d. F. von 1930) zum Ausdruck brachte, wird von den Künstlern der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geteilt: Subjektzerfall, Sprachkritik, Normen- und Wertezersetzung, Orientierungsverlust, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Nostalgieskeptizismus, werden in eine narrative Ästhetik des Bruchs transformiert.50 Nostalgie wird narrativ eingesetzt, um im Rückblick „to recover in fiction what had vanished in fact.“51 Musiker komponieren gegen die Tonalität. Die Zersplitterung der Welt wird in der bildenden Kunst ebenso deutlich, wie die Auflösung des Ichs als Element der allgemeinen Denkstrukturen der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg.52

      Während Romane der Viktorianischen Ära ihre Geschichten zu einem oft positiven Ende bringen – sie enden in Heiraten, individuellem Glück oder in einem tragischen Tod –, enden Romane der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ungewissen Offenheit, die, angesichts unlösbarer sozialer und historischer Turbulenzen, Romanfinale gestalten, „(which) are often forced to move altogether beyond it in one way or another towards vision rather than reality.“53

      Instabile Erzählwelten als Deutungsangebote für Rezipient/innen des dritten Lebensalters

      Erfahrungen transitorischer Identität lassen sich auf konkrete historische Entwicklungen beziehen, weil Identitätserfahrungen als „historische Situierung“ in der Moderne sich im und am Subjekt abspielt, so dass „es historisch von einer Form von Identitätsbildung zu einer anderen kommt.“54 Transitorische Identität als Selbstgefühl widersprüchlicher Aspirationserfahrung wird in der gegenwärtigen Sozialpsychologie als offener Prozess gedacht, der im Gegensatz zu stabilen und fixierten Identitätszuschreibungen traditionaler Gesellschaften unabschließbar ist. Die Formen der Romane von Dickens und die der Brontës nimmt das transitorische Identitätsphänomen als Problem der Ambivalenz von „Kontinuität und Kohärenz gegen Wandel und Flexibilisierung“55 in der Paradoxie des poetischen Realismus erzählerisch auf. Dickens‘ Roman Oliver Twist „(…) is the first novel in the language with its true centre of focus on a child. Although it came after Sketches by Boz and Pickwick, in a sense it was Dickens’s first novel.”56 Charlotte Brontës Protagonistin „(…) Jane Eyre is perhaps the first heroine in English fiction to be given, chronologically at least, as a psychic whole. Nothing, in fact, quite like Jane Eyre had ever been attempted before.”57

      Beide Romane plausibilisieren transgressives Erzählen als Entzug der Identitätsbildungsmöglichkeiten ihrer Protagonisten, als Legitimationsverlust ihrer Erzähler und als unmögliche Möglichkeit einen Roman zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien plausiblen Lösungen zuzuführen. Beide Romane sind in ihrer jeweiligen Ausdrucksgestalt fragmentierte Universen, ästhetische Krisenphänomene des bürgerlichen Mittelstandes:

      The Victorian middle class never attained a period of stability equal to that in which, following the restauration, the aristocracy achieved the order of the eighteenth century. The problem of cultural transmission was bedeviled by sheer rate of social change. To take up a position at all was to pitch camp on a cultural landslide.58

      Die von Peter Coveney gewählte Metapher eines aufgeschlagenen Lagers auf abstürzendem Abhang, die politische Positionen für den bürgerlichen Mittelstand impliziert, trifft die kulturelle und existenzielle Identitätsfrage des bürgerlichen Mittelstandes dieser Zeit. Zu einer vergleichbaren Diagnose des Sinn- und Orientierungsverlusts des bürgerlichen Mittelstandes kommt Franco Moretti in seiner Publikation Der Bourgeois.59

      Ambivalenz prägt die Struktur der Werke Dickens‘, der Werke der Brontës und die der Werke Virginia Woolfs, deren Ausdrucksgestalten zwischen Dauer und Wandel, Stabilität und Instabilität erzählerisch zu vermitteln suchen, ästhetisch die Zirkularität des in den bürgerlichen Selbsttheorien reflektierten Selbstgefühls60 in Begrifflosigkeit fragmentarisch auflösen und ästhetisch transzendieren. Die Erzählwelten um die es im Folgenden geht sind instabil. Sie stellen sich den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den damit in die Moderne weisenden Transformationsprozessen, die die „rasante(n) Veränderungen der Erfahrung von Raum und Zeit“ und die Folge in sich aufnehmen, dass sich das Wirklichkeitsverhältnis zeitlich transformiert, „die Zukunft den Charakter eines offenen Möglichkeitsraumes“61 erhält und das freie Spiel der Kräfte des Liberalismus im erzählerisch geformten Ausdruck, in der polyvalent-offenen Struktur, zum Ausdruck kommt.

      Die ökonomischen, politischen und ästhetischen Wirklichkeitssegmente der ersten Modernisierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich die einer „Umstellung der Gesellschaft auf eine kapitalistische Produktionsweise“, das „Reflexivwerden des säkularisierten Selbstbewusstseins“, die „Befreiung der Künste aus religiösen und politischen Heteronomien“, die die „Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts und seiner Lebenswelten“ ins Leben rufen,62 werden von den Romanen des Viktorianischen Zeitalters narrativ transformiert und zum Erkenntnispotenzial ihrer neuen Wirklichkeitssicht zusammengezogen. Wie im Zuge der zweiten Modernisierungsphase bei Virginia Woolf, geht es Ihnen nicht um eine nachahmende Reproduktion kultureller Zusammenhänge, sondern um die erzählerisch experimentelle Aufdeckung von Fragen nach den Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts. Diese Aufdeckung macht literarische Verfahren erforderlich, die Lösungsansätze für die Diskrepanzen des Zeitalters anbieten. Die Suche nach Lösungsansätzen kollidiert in den Werken des Viktorianischen Zeitalters mit ihren affirmativen Ansprüchen, den Erwartungen ihrer Leser/innen entgegen zu kommen. In Werken der zweiten Moderne wird ein Entgegenkommen den Leser/innen gegenüber durch eine Ästhetik narrativer Brüche verweigert.

      Es geht im Rezeptionsprozess also nicht um die Aufdeckung einer geheimen Wahrheit hinter den Erzählwelten, es geht nicht um eine Erschließung einer ihr eingelagerten bewussten Intention. Es geht darum, das dynamische Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene, Inhalt und Form, als dynamische Spannung gegensätzlicher Kräfte zwischen episodischer Kohärenz auf der Inhaltsebene und fragmentarischer Kontingenz auf der Ausdrucksebene in Gestalt narrativer Ambivalenzen zu erschließen. Dieses Kräftefeld relationiert normative Dimensionen der Erzählwelt, lässt sie im Prozess des Erschließens der erzählten Welt fragwürdig und zum Diskursangebot werden. Daraus resultieren Einsichten der Rezipient/innen in die autoreferenzielle Reflexion der erzählten Welt, die „Fragen nach den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der Fiktion“63 zulässt, ferner: Einsichten in ihre „Dialogizität“, die narrative „konträre Auffassungen und Positionen unablässig aufeinander projiziert und in diesem Prozeß füreinander durchlässig werden“ lässt64 und Einsichten in die Fragmentierung ihrer Form.

      Dieses besondere „Form- und Sinnbildungsmuster“65 des bürgerlichen Romans in Großbritannien, das als Signatur des Sinnverfalls und der Kohärenzauflösung der Identitätsmöglichkeiten des Subjekts in der Moderne gelesen werden kann, wird zum Angebot für heutige Leser/innen des dritten Lebensalters, ihr oben umrissenes kulturelles und biografisches Vorverstehen im Lektüreprozess durch eine produktive Zusammenführung der narrativ unverbundenen Zusammenhänge zu problematisieren. Im Erschließungs- und Reflexionsprozess


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