Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm
Kunst, Musik und Literatur, durch die im Alter erhöhte „Sensibilität für emotionale Inhalte“.73
Kreativität im Alter „(…) betrifft die Kunst der eigenen Lebensführung und das Eintreten für unsere spezifische Existenzform, aber auch die erfinderische Antwortsuche auf Lebensfragen, die spezifisch menschlich sind.“74 Diese kreative Lebensbejahung ist in die drei Dimensionen der Gerotranszendenz, die das Selbst, die Welt und den Kosmos betreffen, eingebettet. In der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, befähigt sie zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“.75
Werke der Kunst, Musik und Literatur lösen Potenziale einer mitfühlenden Reflexion aus. Sie stellen nicht nur „kreative Lösungen der Weitergabe an die nächste Generation“ bereit,76 sondern sprechen in der ästhetischen Transformation menschlicher, weltlicher und kosmischer Beziehungen gerotranszendete Fähigkeiten Alternder emotional an. Sie evozieren Perspektiven auf tragfähige Lebenseinstellungen, die angesichts der Verletzlichkeit des eigenen Lebens, dieses als eine „im Werden begriffene() Totalität“77 zu verstehen und anhand der auf Ganzheit zielenden ästhetischen Gestaltungen zu reflektieren vermag.
Gerotranszendenz ist ein Vermögen, das sich als „positiv besetzte Aufmerksamkeitsleistung“78 ästhetischen Erfahrungen öffnet. Deren wesentliches Charakteristikum besteht in dem Anspruch, Aufmerksamkeit aufgrund neuer Erfahrungen zu erregen. Wolfgang Welsch sieht die Wirkung ästhetischer Ausdrucksformen in „Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit“79, die im „spezifischen Vollzug“80 ästhetischer Wahrnehmung erfahren wird. Im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung im allgemeinen, zeichnet sich nach Martin Seel, ästhetische Wahrnehmung dadurch aus, dass sie „aus einer Fixierung auf eine theoretische oder praktische Verfügung über ihre Objekte heraus(tritt)“. Ästhetische Wahrnehmung, so Seel weiter, „(…) nimmt ihre Objekte unabhängig von solchen Funktionalisierungen in ihrer phänomenalen Gegenwärtigkeit wahr. Sie ist hier und jetzt für das Spiel der ihr zugänglichen Erscheinungen offen.“81 Die durch Gerotranszendenz aktivierte ästhetische Wahrnehmungssensibilität der Rezipient/innen des dritten Lebensalters erschließt in Werken der Kunst, Musik und Literatur Ausdrucksformen einer ästhetisch präsenten und verdichteten Lebendigkeit,82 die zu eigenständigen Erkenntnisleistungen führt. Da diese emotional, kognitiv und evaluativ an „das spezifische Erscheinen der künstlerischen Objekte gebunden“ ist, wird sie nicht primär zur begrifflichen Erkenntnisleistung.83 Vielmehr evoziert ästhetische Erkenntnis das reflexive Selbst- und Weltverhältnis der Rezipient/innen.84
In kultursemiotischer Sicht sind sich Romane des Viktorianischen Zeitalters und Romane der klassischen Moderne darin ähnlich, dass sie die Erforschung moderner Subjektivität narrativ multiperspektivisch, mit unzuverlässigen Erzählern, gestalten: Romane des Viktorianischen Zeitalters in den narrativen Paradoxien von grotesker Vorenthaltung persönlicher Autonomie und märchenanalogen Chancen subjektiver Selbstverwirklichung; experimentelle Romane der klassischen Moderne in der Simultaneität ungleichzeitiger Ereignisse. Narrativ gestalten diese Romane die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Subjekts,85 die die Erzählkunst des frühen 18. bis zum 21. Jahrhundert wie ein großer Phrasierungsbogen überspannt und Vergangenheit zukunftsbezogen in ästhetischer Präsenz verdichtet. Die Romane werden, wie oben dargelegt, zu Gedächtnismedien der Moderne.86
Die erzählerischen Verfahren narrativer Gedächtnismedien lassen sich im kultursemiotischen Rahmen in die Nähe biografischer Erfahrungen von Rezipient/innen des dritten Lebensalters rücken. In ihrer Komplexität lassen sie sich als produktive Illusionen, die wir zum Leben brauchen, erschließen und als narrative sowie kulturelle Antwortmöglichkeiten auf menschliche Lebensfragen reflektieren.
Ins ästhetische Imaginationsspiel wird die Fähigkeit der Rezipient/innen des dritten Lebensalters zur aktiven Imagination gezogen. Verena Kast definiert diese Fähigkeit damit, „(…) daß das Ich aktiv in die Imagination eintritt, daß es ‚kontrollierend‘ und verändernd-verwandelnd ins imaginative Geschehen eintreten kann. Dadurch wird das Unbewußte dem Bewußtsein verbunden“.87
Im Alternsprozess steigt die Sensibilität für emotionale Inhalte wodurch die aktive Imagination der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in ihrer altersgemäßen Differenzierungsfähigkeit von der Dramaturgie der Erzählwelten, ihren kontrastreichen emotionalen Inhalten und ihren offenen Formen angesprochen wird. Da die aktive Imagination Unbewusstes mit Bewusstem verbindet, öffnet sie sich grotesken, märchenanalogen, multiperspektivischen Varianten der Darstellung der literarischen Angst, die, typisch für den Roman der Moderne seit Mitte des 18. Jahrhunderts, mit der zentralen Thematik der Selbstfindung des Ich, „Zonen des Vor- und Unbewußten“ im erzählten Bewusstsein der Protagonisten situiert.88
Bei der Erschließung der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne reflektieren Rezipient/innen des dritten Lebensalters mitfühlend auf diese Erfahrungen. Zwar können sie Ereignisse ihrer biografischen Situation nicht ändern, wohl aber „die Bilder davon in (ihrem) Kopf (…).“89 Die epochale und ästhetische Distanz zwischen ihnen und den Romanen eröffnet ihnen vom sicheren Ort der Lektüre aus eine selbstreflexive Beobachterposition, die die Bösewichter, Dämonen und Schurken dieser Romane – als Gestalten der Angst und des Hasses, oder auch der Komik und Satire – zu Gegenbildern innerer Feinde werden lässt:
In unseren Bildern ist immer auch unser momentanes Verständnis von uns selbst und der Welt, das Verständnis unserer gegenwärtigen Beziehungsmöglichkeiten abgebildet (…). Außerdem kann Abstand genommen werden von sehr negativen Vorstellungen von sich selbst, allenfalls können Sehnsuchtsbilder wesentliche Aspekte der Persönlichkeit freilegen, die bisher zu wenig ins alltägliche Leben integriert wurden. Das Selbstgefühl verändert sich (…).90
In einer späteren Publikation ergänzt Verena Kast diesen Gedanken am Beispiel einer empirischen Studie zur Imagination, die im Vergleich real rudernder und imaginiert rudernder Sportler zu dem Ergebnis kommt, dass bei Klienten imaginative Ressourcen aktiviert werden können, wenn kinästhetische Wahrnehmungen das Wohlbefinden fördern: „Imagination bewirkt also nicht nur emotionale Veränderungen, sondern auch körperliche“91, die sich, so Kast weiter, im Alter durch aufmerksames sinnliches Wahrnehmen der Welt und ihrer Natur steigern: „Durch die Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung wird die Vorstellungskraft immer wieder neu angeregt (…)“ – wobei die Einbeziehung „(…) eine(r) wissenden Kreativität(…)“92 die selbstreflexive Rezeption von Kunstwerken stärkt und steuert.93
Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne können eine Veränderung des Selbst- und Weltgefühls der Rezipient/innen des dritten Lebensalters in dem Sinne bewirken, dass das „Leben schöpferisch gestaltet werden kann, schöpferisch im Sinne der Persönlichkeitsänderung“.94 Wissende Kreativität und transitorische Identitätserfahrungen gehen ineinander über.
Im Rezeptionsakt entstehenden kreative Formen der „Konfliktfähigkeit“95, die Erfahrungsmöglichkeiten einer Alters-Coolness als lebenskluge Gefasstheit hervorrufen.
Diese Gefasstheit ist als Dialektik gelingenden Lebens im Alter zu verstehen. Jean Améry bezeichnet sie als Bejahung einer zum Scheitern verurteilten Revolte. Diese setzt der „Ver-nichtung“ der Alternden „durch die Gesellschaft“ eine flexible Haltung entgegen, die seitens der Alternden „die Ver-nichtung an(nimmt) (…)“.96 Die Alternden wissen, dass sie sich nur dann selbst bestimmen und bewahren können, wenn sie sich dieser Unausweichlichkeit stellen. Nach Améry ist der Alternde „in der Anerkenntnis des Nichts-Seins noch ein Etwas. Er macht die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie.“97 Reife im Alter bedeutet, unangepasste Lebenswege zu gehen, die das Gefühl stärken, ein eigenes Leben in der Gesellschaft der Mitmenschen führen zu können, eine Lebenshaltung, die auch der Generation der Rezipient/innen des dritten Lebensalters entspricht.
Literarische Werke, Märchen, Mythen, antike Dramen, Musik, Philosophie, die Paradoxie des poetischen Realismus, die dem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts Gestalt verleiht und die modernistische Erzählweise der Romane nach dem Ersten Weltkrieg, stellen für diese Identitätsproblematik kreative Lösungen bereit. Als ästhetische Analogieerfahrungen zur Dialektik des Alterns und den spezifischen Erfahrungen der Nachkriegsgeneration, der