Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


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Erfahrungen und Selbsterfahrungen im Zusammenwirken von individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis, wie sie in der ambivalent strukturierten Gedächtnismetaphorik der Romane des Viktorianischen Zeitalters zum Ausdruck kommen, ermöglichen.

      Wenn nun imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, dann entwickeln moderne Romane narrative Programme, die die Realität imaginativ perspektivieren. Was heißt das? Romane des Viktorianischen Zeitalters entwickeln das Paradox ihres poetischen Realismus ambivalent aus zwei antagonistischen Energien heraus: einer anthropologischen und einer ethischen Energie, die antithetisch gegeneinander wirken und die Inkohärenz ihrer Form als Schein ihrer Kohärenz durchschauen lassen.

      Die anthropologische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist der Mensch? Die komplexen und sich überkreuzenden Handlungsstränge und Plots der Romane des Viktorianischen Zeitalters beantworten diese Frage auf der inhaltlichen Ebene, also auf der Ebene erzählerischer Dynamik, kulturpessimistisch: Menschen sind unberechenbar, unbesonnen, machtbesessen, gierig, abgründig, nicht festzulegen, exzentrisch, heimatlos.

      Aus dieser kulturpessimistischen Sicht entfalten sich in den Romanwelten Zufälle, Erwartungsbrüche, Perspektivenwechsel, Stimmungsumschwünge in asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen problematischen Individuen und einer zur Prosa gewordenen Welt, die sowohl die Machthaber, als auch die von ihnen manipulierten Subjekte als problematische, zwiegespaltene Subjekte – jedes auf seine Weise – zum Ausdruck bringen. Diese Dramaturgie der Doppelkrisen findet man beispielsweise auch bei Shakespeare, Goethe, Schiller und in den Opern Verdis. Die Seite der Mächtigen zeigt sich im Zwiespalt zwischen dem Bestreben, ihre Macht zu erhalten, bei innerer Bedrohung ihrer Autonomiefähigkeit und die Seite der ohnmächtigen Figuren befindet sich im Zwiespalt zwischen ihrer Autonomiefähigkeit und der inneren Bedrohung ihrer Autonomiemöglichkeiten. Die Blickrichtung der Mächtigen ist rückwärtsgewandt, die der Ohnmächtigen zukunftsgerichtet. Diese doppelgesichtigen Gegenströmungen werden in den Romanen des 19. Jahrhunderts kontingenzästhetisch gestaltet. Es entsteht ein Perpetuum mobile, das in der Darstellung durchkreuzter Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Möglichkeitsraum der Fiktion visionär deren Gegenperspektive – versöhnte personale Autonomie – entwirft.

      Dieses kontingenzästhetische Erzählgewebe ist gesellschaftskritisch angelegt und eröffnet bei Rezipient/innen des dritten Lebensalters aufgrund ihrer Lebenserfahrungen komplexe imaginative Möglichkeits- und Spielräume, die sie mit kulturell differenten Erfahrungen konfrontieren, weil sich gesellschaftliche und kulturelle Diskrepanzen narrativ erschließen und durch Zusatzmaterialien kulturgeschichtlich in Augenschein nehmen lassen.

      Die ethische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist angesichts der Korrumpierbarkeit des Menschen und seiner Handlungen zu tun? Romane des Viktorianischen Zeitalters stellen diese Frage heutigen Leser/innen anheim und laden sie zu Plausibilitätsfragen ein, auf die unten eingegangen wird.

      Die Romane beziehen eine autoreferenzielle Gegenperspektive zur Elastizität ihrer inhaltlichen Behauptung, der Mensch sei abgründig und heimatlos. Sie flechten intentional kulturoptimistische Perspektiven ins narrative Gewebe ein. Entgegen der Intention, der Mensch sei kontingenzanfällig, breitet sich innerhalb des kulturpessimistischen Erzählgewebe die humoristisch bzw. in romantischer Ironie gestaltete Sichtweise aus, Menschen seien, mit Ausnahme der unbelehrbaren abgründig Bösen, gut und sozial harmoniefähig, symmetrischer Beziehung fähig, die personale Autonomie intersubjektiv möglich werden lässt. Diese affirmative Sicht, die der Gefahr einer Ontologisierung personaler Autonomie nicht entgeht, durchwirkt das kulturpessimistische Perpetuum mobile der Romane als aussagekräftiger Teil ihrer Ganzheit und stellt es ideologienahe still. Heutige Rezipient/innen des dritten Lebensalters empfinden diese ideologienahe Stillstellung als Erwartungsenttäuschung, als Bruch und Zerbrechen der narrativen Ganzheit, als die strukturelle Ambivalenz, die sie ist, die den Plausibilitätstest aus ihrer Sicht hinsichtlich der anthropologischen Ebene nicht besteht, selbst wenn symmetrische Potenziale in den asymmetrischen Beziehungen vom Erzählbeginn an angelegt sind.

      Formuliert man diese rezeptionsästhetische Problematik unter der Fragestellung, welche narrativen Potenziale der Mündigkeit und Reife die Romane des Viktorianischen Zeitalters den Rezipient/innen des dritten Lebensalters bieten, so erhält die epistemologische Ambivalenz dieser Erzählwelten eine erweiterte Perspektive: Die komplexe Verflechtung von Problemen und Krisen, mit denen sich die problematischen Individuen auf der anthropologischen Ebene der Romane auseinandersetzen, weisen auf Möglichkeiten einer noch unerreichten Mündigkeit und Menschenwürde hin. Jedoch durchkreuzt und ergänzt die ethische Dimension der Romane mit der in ihr enthaltenen idealisierten Tugendethik des 19. Jahrhunderts diese Möglichkeit und setzt ihr zugleich eine oft märchenhafte Vision von Mündigkeit und Menschenwürde entgegen. Die ästhetische Paradoxie des Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters besteht aus einer romantischen Weltsicht, die illusionslos die Abgründigkeit des modernen Menschen aufdeckt, weil sie sich erzählerisch von ihren empirischen und naturalistischen Erscheinungsweisen entfernt. Sie öffnet eine Tiefe der narrativen Welt, in der sich traumanalog Gegenwart und Geschichte, Erforschung des Selbst und Mythos begegnen. Diese Begegnung gibt den Erzählwelten jenseits politischer Umstände eine erweiterte, ihre Epoche transzendierende Zeitebene, die bis in die Gegenwart heutiger Leser/innen reicht.

      Rezipient/innen des dritten Lebensalters erkennen in dieser Ästhetik romantischer Illusionslosigkeit die fiktionale Forderung nach Mündigkeit, die im Zeitalter des technischen Fortschritts historisch unerfüllbar blieb. In dieser Erkenntniskritik, die Unmündigkeit ästhetisch reflektiert, so auch in den Opern Verdis, wie Rigoletto, Otello, Macbeth, werden die Romane des Viktorianischen Zeitalters zu Wegbereitern modernen Erzählens; sie sind moderne Romane.

      Die Ambivalenz der antithetischen Energien, der anthropologisch-kritischen und der ethisch- affirmativen evoziert kreative Dialoge zwischen den Romanwelten des Viktorianischen Zeitalters und Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Die Entdeckung, dass Handlungsverwicklungen und die Gestaltung der jeweiligen Romane kolportagehaft zusammengehalten werden bzw. auseinanderbrechen, die potenzielle Kohärenz der narrativen Form epistemologisch auseinandergetrieben wird und heute nicht mehr plausibel erscheint, regt zu Reflexionen an, inwiefern die konflikterzeugende Doppelgesichtigkeit der Konstellation von problematischen Protagonisten und Antagonisten auf den Inhaltsebenen der Romanwelten und Brüchen auf der narrativ formalen Ebene, transitorische Identitätserfahrungen kultursemiotisch wiedererkennen lassen?

      Shakespeares Komödien und Tragödien stellen die Frage nach dem modernen Selbstverständnis ebenso, wie die Wegbereiter des modernen Romans. Zu nennen sind beispielsweise Miguel Cervantes Don Quichote (1605/1615), Laurence Sternes Tristram Shandy (1759), Charles Dickens‘ Oliver Twist (1837) und, doppelperspektivisch, Dickens‘ Bleak House (1852), Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Emily Brontës mehrfach perspektivierter Ich-Roman Wuthering Heights (1848), Flauberts L’Education Sentimentale (1869), um nur einige zu nennen.

      Gestaltet wird die Suche nach personaler Autonomie, aus der Sicht gesellschaftlicher Außenseiter oder außergewöhnlicher Individuen. Selbstbestimmung wird zum ästhetischen Problem. Dort, wo im Mittelalter der Glaube zentral war und zur Zeit der Aufklärung das autonome Selbst zur abstrakten Idee wurde, entstand in der frühen Neuzeit und in der Romantik ein – wie Peter Gay deutet – „bedrohliches Vakuum“ („a frightening vacuum“), das bei Künstlern und Schriftstellern eine verzweifelte Suche nach „geistiger Zuflucht“ hervorrief. „Zur Debatte“, so Peter Gay, „stand das Bild vom Selbst“; die Suche gestaltete sich als Suche nach plausiblen Gestalten des Schöpferischen, als Entfesselung eines inneren Sinns und einer poetisch narrativen Wiederverzauberung der Welt.14

      In dieser Entwicklung der Moderne, die ein Sinnvakuum hervorrief, wird der kulturdiagnostische Ausdruck der Romane erkennbar: Ihre durch strukturelle Ambivalenzen fragmentarisierten Universen konfrontieren die Entfremdungserfahrungen und das Sinnvakuum ihrer Zeit. Die Paradoxie des poetischen Realismus ist ihr Wahrheits- und Wiederverzauberungsmoment. Sie ruft über Plausibilitätstests, die weiter unten erläutert werden, kreative Wahrnehmungs- und Selbstreflexionsmöglichkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters hervor, weil moderne Romane, wie die Moderne, keine adäquate Antwort auf das moderne Identitätsparadigma


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