Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


Скачать книгу
einer Teilnehmerin am Seminar zu Charlotte Brontës Roman Jane Eyre.

      „Ich habe Emily Brontës Roman Wuthering Heights vor vierzig Jahren gelesen und nicht verstanden. Jetzt finde ich ihn atemberaubend.“

      Kommentar einer Teilnehmerin am Seminar zu Emily Brontës Roman Wuthering Heights.

      2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters

      Romane des Viktorianischen Zeitalters sind Wegbereiter modernen Erzählens. Sie zeichnen sich durch eine große Formenvielfalt aus, die jede Kategorisierung dogmatisch erscheinen lässt. Um drei Vertreter/innen dieser Gruppe von Romanen, Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë, wird es im dritten Teil gehen.

      Romane der klassischen Moderne Großbritanniens lassen zwei Entwicklungslinien erkennen. Zum einen die Linie traditionellen Erzählens, die allerdings mit der Prosa des viktorianischen Romans durch thematische Erneuerungen nicht mehr zu vergleichen ist. Vertreter dieser Linie sind D.H. Lawrence, Aldous Huxley, Christopher Isherwood.

      Zum anderen experimentelles Erzählen, das sich durch Multiperspektivität, Hybridität, Fragmentarisierung und die Gestaltung des stream of consciousness auszeichnet. Vertreter dieser Linie sind Joseph Conrad, Virginia Woolf und James Joyce.1 Um eine der Vertreterinnen dieser experimentellen Linie, Virginia Woolf, wird es im drittenTeil, im Anschluss an die Vertreter des Romans des Viktorianischen Zeitalters, gehen. Sie entwirft eine alternative Erzählkunst zu der des 19. Jahrhunderts.

      Das Viktorianische Zeitalter ist eine gesellschafts- und kulturverändernde Umbruchszeit. Mit der Regierungszeit Königin Victorias erstreckt es sich von 1837 bis 1901. 1837 erscheint Charles Dickens‘ erster großer Roman Oliver Twist und 1901 Rudyard Kiplings Roman Kim. Diese Romane liegen chronologisch und topografisch zwar weit auseinander, haben jedoch, obgleich sie der ersten und der zweiten Modernisierungsphase zuzuordnen sind, frappante narrative Ähnlichkeiten: Zwei junge Protagonisten wandern orientierungslos und sinnsuchend in einer komplexen und unüberschaubaren Welt umher. Romane des Viktorianischen Zeitalters sind entgegen gängiger Vorurteile nicht altmodisch und kitschig. Vielmehr entwickeln sie komplexe erzählerische Energien, deren Intensität und Einzigartigkeit zugleich affirmativ und zeitkritisch sind, Leser/innen auch heute noch mit Orientierungsverlust und Wertezerfall konfrontieren und als Wegweiser modernen Erzählens erschlossen werden können. Ihre enzyklopädischen Horizonte, die durch multiple Plots entfaltet werden, setzen sich nicht nur mit dem status quo sozialer und moralischer Konventionen ihrer Zeit auseinander und stützen mit diesem Programm die neu entstandene industrielle und kapitalorientierte Mittelklasse, sind also Erzählwelten ihrer Zeit, sondern spielen mit affirmativen Lebenshaltungen, drehen sie um, stellen sie in ihren Kehrseiten dar. Zugleich mit ihrer affirmativ erscheinenden Konstruktion sind sie gegen die Zeitströmungen der Kapitalakkumulation, des Nützlichkeitsdenkens, des linearen Fortschritts und Zerfalls der Humanität verfasst. Weder waren sie zu ihrer Zeit bequeme Ratgeber, noch können sie heute so verstanden werden. Sie sind, in der Formulierung George Levines: „(…) exploratory and inquisitive as well as didactic und moralistic.”2

      Die hier vorgelegte Auswahl von bekannten Romanen des Viktorianischen Zeitalters wird mit ihrer narrativen Verfremdungstechnik begründet, an der sich exemplarisch zeigen lässt, wie diese Romane die viktorianische Welt entdecken, erforschen, kritisieren und erzählerisch innovativ entwerfen. Dabei rückt ein zentrales Charakteristikum der Romane des Viktorianischen Zeitalters ins Zentrum: Das Paradox des poetischen Realismus, das sich bei jedem der Romane unterschiedlich auswirkt, in Varianten europäische Romane des 19. Jahrhunderts strukturiert und diese als moderne Romane auszeichnet.

      Das Paradox besteht in der nicht auflösbaren Ambivalenz des erzählerischen Anspruchs auf realistische Detailgenauigkeit, die wegen ihrer Komplexität unerfüllbar bleibt und dem Anspruch der narrativen Bündelung der Details in Perspektiven, die die Unerfüllbarkeit des Anspruchs als erfüllbar, mithin plausibel erscheinen lassen.

      Dieses Paradox, das sich mit Zima als strukturelle Ambivalenz bezeichnen lässt – Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese3 – enthält die epistemologische Frage, ob ideelle, imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, und wie Ideen und Imagination von äußeren Umständen abhängig sind? Romane des Viktorianischen Zeitalters lösen dieses Problem nicht, sie stellen es narrativ dar, indem sie es in die Innenwelt ihres jeweiligen Erzählkosmos transformieren – „throwing the drama inside“4 – und damit zum Problem ihrer Form machen: Das Innenleben der Protagonisten gerät in multiplen, sich durchkreuzenden Handlungssträngen in Konflikte mit der Empirie einer zur Prosa gewordenen Welt, wobei die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Totalität der Romane ideelle Lösungsmöglichkeiten anbietet. Diese Romane kommentieren geradezu postmodern im Erzählen des Erzählens diese Ambivalenz bzw. Paradoxie einer imaginierten Empirie als Spiel mit dem Schein. Die Autoren heben in ihren Vorworten immer wieder hervor, dass realistisches Erzählen, ihr als ob, sich von Dichtern der bürgerlichen Moderne, nämlich der englischen Romantik, herleitet, „(…) which made the ‚ordinary‘ into the romantic, and made the true epic not warriors’ adventures around the world, but the growth of the mind.“5 Realistisches Erzählen als durch und durch literarisches Erzählen ist die Entdeckung, Erforschung und der imaginative Neuentwurf des modernen Selbst in einer neu zu entdeckenden, komplexen und unüberschaubar gewordenen Welt mit dem Anspruch, Bekanntes und Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Nicht mehr fantastische Götter, Zauberer und Dämonen geben dem modernen Roman seine narrative Form, sondern die „(…) Desillusionierung der Welt, wie sie die Neuzeit und Aufklärung bewirkt haben.“6

      Desillusionierung der Welt heißt, die Dinge, wie sie sind, sichtbar machen, utilitaristische, religiöse, fortschrittsorientierte Ideologien zu entlarven und Leser/innen Denkanstöße über Sinnes- und Selbsttäuschungen zu geben, um die aus ihnen folgenden Krisen und Katastrophen, wie sie beispielsweise in Cervantes‘ Roman Don Quichote zum Ausdruck kommen, zu vermeiden.7 Es heißt aber auch, in Analogie zum Humor, dass narrative Erzählwelten zusätzliche, nicht sichtbare Wirklichkeiten zulassen, so dass „im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden“ kann.8 Romane des bürgerlichen Zeitalters, moderne Romane, stellen Grenzphänomene der Vernunft bzw. die Kehrseite einer als vernünftig angesehenen Welt dar.

      Da bürgerliche Romane von Anbeginn an mit ihren Erzählfiguren experimentieren – ein imaginäres „experimentelles Ego“ entwerfen und der „existentiellen Problematik (der Figuren) auf den Grund“ gehen,9 kann die zur Altersgelassenheit werdende Lebenshaltung der Rezipient/innen des dritten Lebensalters eine ästhetische Wahrnehmungssensibilität entwickeln, die hinsichtlich der Fragilität der Erzählfiguren in einer komplexen Erzählwelt, diese als poetische Verdichtung der „Komplexität der Existenz in der modernen Welt“10 reflektieren und in Plausibilitätsfragen manifestieren kann.

      Auf dem Prüfstand der Romane und der Leser/innen steht der epistemologische Anspruch der Erzählwelten mit ihrem ethischen Anspruch realistisch zu erzählen, um die gesellschaftliche Realität zur Humanität zur verändern. Erich Auerbachs Studie Mimesis stellt für diesen Anspruch eine klassische Definition bereit. Die „(…) ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung“, bildet das Zentrum realistischen Darstellens.11

      Da aber realistisches Darstellen epistemologisch mit dem Erzählen von Wahrheit verknüpft ist (wie es wirklich ist und war), entsteht durch den Wahrheitsanspruch das Paradox des poetischen Realismus mit anthropologischem und ethischem Anliegen. George Levine kommentiert: „Realism (…) is paradoxically an attenuated form of a distinctly non-realistic narrative practice.“12 Erich Auerbach, George Levine und Odo Marquard sehen die Auflösung der Paradoxie in den Romanen des poetischen Realismus selbst: Diese Romane gestalten Lebens- und Entscheidungssituationen als Welten der Ambivalenz und Relativität und sie gestalten narrative Universen, die mit dem Erzählen des Erzählens spielen, sich selbst kommentieren und in Details und Gesamtkonstruktion ihren Leser/innen anthropologische und ethische Sinnangebote machen.13

      Die Refiguration der Romanwelten durch die Rezipient/innen


Скачать книгу