Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm
erzählerische Form als dialektisches Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene ist eine hermeneutische Formbestimmung, die die erzählerische Form nicht formalistisch als „Befreiung vom Inhalt“, sondern in ihrer Dialektik zur „unerlässlich(en)“66, dialogermöglichenden Bedingung der Erschließung der ästhetischen Differenz und damit des Verstehensprozesses werden lässt.
Indem diese Romane in ihren narratologisch differenten Ausdrucksgestalten den Sinn- und Orientierungsentzug der reflexiven Moderne anschaulich werden lassen, bieten sie ihren Leser/innen Entfremdungs- und Unheilerfahrungen der modernen Welt und die mit ihr einhergehende Identitätsfrage als erzählerische Problemdiagnose und als Sinnangebot an: Autonomieansprüche der Protagonisten werden perspektivisch gegen patriarchale Hegemonialansprüche in Stellung gebracht und laufen narrativ auf eine tödliche Gefährdung ihrer Identitätsmöglichkeiten hinaus. Es entstehen narrative Strukturen einer reflektierten Vergeblichkeit, die die Sehnsucht nach erfüllter Ganzheit bzw. den Schrecken vor ihrer Nicht-Erfüllbarkeit erzählerisch zum Vorschein bringen.
Die Rolle der Literatur in der Moderne wird vor dem Hintergrund der Beschleunigung, einer rasanten Veränderung von Zeit und Raum, der offenen und fortschrittsbezogenen Zukunftsorientierung, sozialer Verwerfungen, des Werteverfalls und Sinnvakuums, die der Modernisierungsprozess seit dem 18. Jahrhundert mit sich brachte, problematisch. Sie übernimmt die Rolle einer Konfrontation und Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen dieses ungeheuren Transformationsprozesses, indem sie ihn erforscht, in Bilder einer wiederverzauberten Welt zu kleiden sucht67 und narrativ kritisiert.
Heute evozieren Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne Leselust, Neugier auf Handlungsentscheidungen und -verwicklungen in den Plots und kritisches Interesse an den kulturdiagnostischen Lösungen, die die Romane vorschlagen. Indem die reflektierende Urteilskraft der Rezipient/innen angeregt wird, kommen kathartische Moment ins Spiel, die verletzende Erinnerungen affizieren.68
1.5 Rezipient/innen des dritten Lebensalters – Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg
Im Rahmen von gelenkten Seminargesprächen, die durch eine Drei-Phasen-Methode strukturiert sind – wir gehen weiter unten darauf ein – kommen wissbegierige, neugierige und sprachsensible Teilnehmer/innen des dritten Lebensalters freiwillig und mit Interesse an Romanlektüren zusammen.
Die Lebendigkeit der Interaktion zwischen den Rezipient/innen und den literarischen Texten, ihr Erschließen, Durchdenken und der kritische Diskurs, kommen durch Potenziale zustande, die in der Gerontologie unter dem Begriff der Alterskreativität zusammengefasst werden. Deren charakteristische Merkmale sind Offenheit und imaginative Möglichkeiten. Dazu gehört auch die Fähigkeit zur Gerotranszendenz, deren Schlüsselkompetenzen Weltinteresse und Spiritualität sind. In der Interaktion zwischen den literarischen Texten und den Rezipient/innen werden diese Fähigkeiten aktiviert und die heilende Kraft der Phantasie der Rezipient/innen wird kathartisch wirksam.
Die kreativ heilende und politisch wirkende Kraft der Phantasie wird von dem Gerontologen Andreas Kruse in Bezug auf Johann Sebastian Bach,1 von dem Sozialphilosophen Axel Honneth in Bezug auf Bob Dylan,2 von dem Filmtheoretiker Burkhardt Lindner in Bezug auf Charlie Chaplin,3 von der Psychoanalytikerin Luise Reddemann4 und von Musikern, Kabarettisten und Lyrikern der Nachkriegszeit5 in Bezug auf kreative und produktive Potenziale und ihre kathartischen Wirkungen für die Nachkriegsgeneration, von Soziologen aus Experteninterviews mit Gerontologen und Medizinern,6 von den Philosophen Walter Benjamin7 und Christoph Menke8 in Bezug auf die politische Wirksamkeit der ästhetischen Urteilskraft herausgearbeitet.
Am Beispiel der Erzählwelten von Charles Dickens, der Brontës und Virginia Woolfs kann deutlich werden, dass Literatur Imaginationsräume entstehen lässt, die die Kreativität im Alter anspricht und neue Freiräume mit einer Sensibilität für Fiktionalisierungen öffnet.9 Der Romantheoretiker und Anglist F.K. Stanzel spricht in Bezug auf das Erschließen und Verstehen von Romanen und damit auch in Bezug auf Potenziale narrativer Identität Alternder von „Affinitäten, Analogien und Ähnlichkeiten" mit Innovationen der modernen Poetik, die mit den Mitteln der erlebten Rede, des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms den veränderten Sichtweisen des Alters ideal entspreche.10
Auch Schriftsteller wie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und die Brontës trugen mit ihren herausfordernden gegenbildlichen Erzählwelten nicht nur zu Sozialreformen, sondern auch zur bis heute wirksamen Aktualität der Frauenfrage und zu Fragen nach der Bedeutsamkeit persönlicher Autonomie in der reflexiven Moderne bei.
Altern als Werden zu sich selbst, so Thomas Rentsch, ist durch die Unwiederbringlichkeit des menschlichen Lebens, die Unvordenklichkeit seiner Anfänge, die Unvorhersehbarkeit seines Endes bestimmt, wobei diese Negativitätserfahrung der Begrenztheit keine abwertende Bedeutung impliziert. Sie ist in der Konzeption transitorischer Identität verankert: „Die Vorsilbe ‚Un-“, so Rentsch, „indiziert jeweils pragmatische Handlungsunmöglichkeiten, etwas, das wir aufgrund der Konstitution unseres endlichen Lebens nicht können.“11
Dieses Nicht-Können zeigt sich in den Grundzügen unseres Selbstverhältnisses: in der „Verdecktheit der eigenen Vergangenheit“, in der „ständig mögliche(n) Selbstverfehlung“, schließlich in der Fragilität und Endlichkeit des menschlichen Lebens,12 Grundzüge, die Jürgen Straub als Momente der Selbstentzogenheit transitorischer Identität reflektiert.
Im Alternsprozess tritt durch die kürzer werdende Lebenszeit die Erfahrung transitorischer Identität als Selbstentzug deutlicher als in jüngeren Jahren hervor. Der Alternsprozess in der Moderne ist, in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, durch sein Gefährdungsbewusstsein und durch die Möglichkeit zur kreativen Gestaltung des eigenen Lebens geprägt. Angesichts der menschlichen Grundsituation eines Werdens zu sich selbst, spitzt sich die Paradoxie des Alternsprozesses auf die Erkenntnis zu, dass das Alter als „ein konstitutiv riskantes, gefährdetes und gebrochenes Werden zu sich selbst“ erfahren wird.13
Gerade Musik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl führen dazu aus:
Die Musik gibt uns zunächst die Möglichkeit, seelische und geistige Prozesse auszudrücken und auf dem Weg dieses Ausdrucks zu reflektieren. Durch die Reflexion werden erst Erlebnisse in Erfahrungen und Erkenntnisse transformiert. Sie bildet weiterhin eine bedeutende Grundlage für das Werden zu sich selbst – eine Entwicklungsaufgabe, die angesichts der Veränderungen, mit denen sich ältere Menschen in ihrer Lebens Situation konfrontiert sehen (…), von hervorgehobener Bedeutung ist.14
Das Werden zu sich selbst ist ein seelischer und körperlicher Entwicklungsprozess, der im Alter zu einer Durchlässigkeit für neue Erfahrungen, einem Persönlichkeitswachstum, einer psychischen Widerstandsfähigkeit, einer Flexibilität in Bezug auf positive soziale Beziehungen führt, die der oder dem Alternden ermöglicht, „im Einklang mit sich selbst zu stehen“.15 Musik, Kunst und Literatur lassen Altern zur Erfahrung eines „höchst dynamischen Prozess(es)“ werden.16
Vor diesem anthropologischen Hintergrund einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit lässt sich verstehen, dass flexible Autonomie bzw. integrierte Persönlichkeit im Alter „Plastizität (…) im gesellschaftlich-kulturellen Kontext“17 der Moderne mit ihren Umbruchzeiten bedeutet. Entgegen gesellschaftlicher Defizitdiskurse über das Alter entstehen im dritten Lebensalter Kreativitätspotenziale, die in Bezug auf die Ganzheit eines individuellen Lebens sowie auf die Generationenfolge und die Erhaltung der Natur, das eigene Leben in eine umfassende Ordnung stellen kann.
Sieht man mit dem Philosophen Otfried Höffe, dass das reduktionistische Menschenbild, das westliche Gesellschaften von Alternden entwerfen, aus vier Problemfeldern besteht: „(1) Einschränkung des Handlungsspielraums; (2) Entmündigung im Alter; (3) Vernachlässigung; (4) Gewalt gegen die Älteren (…)“18, und setzt man das ganzheitliche Persönlichkeitsmodell des Gerontologen Andreas Kruse dagegen – dieser entwirft 5 Kategorien gelingenden Lebens: „1. Selbständigkeit, 2. Selbstverantwortung, 3. Bewusst angenommene Abhängigkeit, 4. Mitverantwortung (…). 5. Selbstaktualisierung“19, dann wird die Fähigkeit Alternder zur „Gerotranszendenz“20 einsichtig.