Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm
mit Potenzialen, die Resilienz und Resistenz im Gefühl einer „irreduziblen Würde“21 mit einander verbinden. Resilienz bezieht sich auf individuelle, Resistenz auf gesellschaftsbezogene Potenziale einer flexiblen Lebensgestaltung des Alterns in der reflexiven Moderne.
Da im Alter, sei es aus gesundheitlichen, sozialen oder kulturellen Gründen, immer individuelle Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf dem Spiel stehen, können Selbst- und Fremdbestimmung von außen und/oder von innen in ein prekäres Ungleichgewicht geraten. Es geht daher im Alternsprozess darum, „dem eigenen Leben (…) Form und Gestalt zu geben“.22
Im Rahmen neuer Forschungen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter beschreibt Harm-Peer Zimmermann wie es alternden Menschen gelingen kann ein zufriedenstellendes Leben angesichts von Einschränkungen und Belastungen zu führen. Zimmermann schlägt den Begriff einer Alters-Flexibilität vor, der sich nicht nach zentralen Verhaltensanforderungen in Gesellschaft und Medien richtet – diese Anpassung zöge eine marktorientierte, außengeleitete Lebensführung und Konformismus nach sich.23 Vielmehr führten von innen heraus gestaltete eigene Wege zu einer inneren Selbstfindung, die Alters-Flexibilität als Lebenshaltung und Halt im Leben der Älteren verspreche. Zu den Lebensinhalten käme die Lebensform als eine „Gefasstheit“ zum Zuge, die sich angesichts der „Miseren des Alters und (…) überhitzte(r) Leitartikel und Debattenreden“24, nicht irremachen lässt. Es geht bei dieser Haltung darum nach innen und nach außen Distanz durch eine Haltung kritischer Flexibilität zu bewahren.25 Diese Haltung nennt Zimmermann Alters-Coolness. Das kritische Potenzial dieser Coolness sieht Zimmermann darin, dass es mit gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen auf gleicher Augenhöhe umgeht. Das bedeutet, dass Alters-Coolness nicht unter das Niveau von gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen fällt:
Ihre kritische Virulenz besteht gerade darin, dass sie den Flexibilitätsstandard des modernen Lebens nicht unterläuft, sondern ihn sogar überbietet. Coolness steigert die Flexibilitätsanforderungen noch. Aber gerade durch diese Steigerung lässt sie die Flexibilitätsforderung hinter sich beziehungsweise überführt sie in eine andere Form.26
Diese andere Form besteht darin, dass sie sich der Norm der Flexibilität bedient, um gesellschaftliche Flexibilitätsforderungen an ihren eigenen Standards zu messen. Alters-Flexibilität kann in Resistenz und Kritik umschlagen, sobald sie mit gesellschaftlichen Altersbildern und Altersrollen konfrontiert wird. Zimmermann folgert: „Coolness bestätigt und bekräftigt den Abstand von verbindlichen Altersbildern, aber sie hält ebenso Abstand von der Unverbindlichkeit des Flexibilitätsregimes selbst.“27 Diese reflektierte Distanz, die vergleichbar ist mit der von Kant analysierten persönlichen Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft, verleiht Alternden, so Zimmermann, „(…) die Konstitution der Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzierung, nämlich die Souveränität, auf Verhaltensanforderungen der Flexibilität flexibel zu reagieren.“28 Diese Souveränität bezieht sich selbstreflexiv auf die Alternden, soziale Kontexte, zukünftige Generationen und auf den Erhalt der Natur. Sie entspricht in ihrer Plastizität der von Axel Honneth entworfenen Theorie dezentrierter Autonomie, die „Dimensionen des individuellen Verhältnisses zur inneren Natur, zum eigenen Leben im Ganzen und (…) zur sozialen Welt umfasst.“29
Der Begriff der persönlichen Autonomie, so Honneth, lässt sich als eine „zwanglose und freie Selbstbestimmung denken“, die besondere Fähigkeiten „(…) im Umgang mit der Triebnatur, mit der Organisation des eigenen Lebens und den moralischen Ansprüchen der Umwelt“30 verlangt. Sie verbindet in der Haltung der individuell organisierten Flexibilität Lebenserfahrungen des bisherigen gesamten Lebenslaufs in der reflexiven Moderne mit einem intuitiven, verborgenen Wissen,31 das der Haltung der Alters-Flexibilität eine kontextsensible Richtung weist. Elemente dieses intuitiven Wissens ergeben sich aus Experteninterviews mit Medizinern, Pflegepersonal und Gerontologen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter und hohem Alter angesichts der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen.32 Zu den Elementen intuitiven Wissens gehören die Sensibilität für eigenes Leid und das Leid anderer, Selbstverantwortung und Bedürfnisorientierung, ein Gefühl und Verständnis für Grenzsituationen, denen „etwas Plötzliches, Propulsives oder Höheres“ anhaften kann,33 Erfahrungen mit Erlebnissen existenzieller Krisen und Einsamkeit, Erfahrungen von gemeinsamer oder individueller Trauer, Antizipation von Sterben und Transzendenz. In der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit spielen im Alter Phantasien und Tagträume, Daseinsthemen, wie sie in Literatur, Filmen und Kunst, in Theologie und Philosophie verhandelt werden, eine wesentliche Rolle.34 Dabei werden Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen anerkannt:
Da sei eine Großräumigkeit im alten Menschen, das Alter wird verbunden mit dem Hervorbringen von Wunderbarem und der Fähigkeit, seine Lebensgeister wieder erwecken zu können. Dies führt (…) zum Transzendentalen und dem Überschreiten von Grenzen und Grenzsituationen. Spiritualität wird genannt und der Humor, die Fähigkeiten zu kleinen Dummheiten und Narreteien des Alters.35
Aus den Elementen des intuitiven Wissens im Alter resultieren sensible und flexible Verhaltensweisen alter Menschen in Alltag und Kultur. Diese Fähigkeit besitzen auch die zwischen 1940 und 1950 geborenen Rezipient/innen des dritten Lebensalters, die als zweite, als Nachkriegsgeneration, zwischen der ersten, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und unter den Verbrechen der Nationalsozialisten gelitten hat und der dritten Generation, der im Frieden aufgewachsenen zwischen 1960 und 1985 geborenen Jahrgänge, zu situieren ist.
Dokumentationen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lesen sich wie Skripte antiker Tragödien, deren Zentren unauflösbare Dilemmata, Vertrauens- und Sinnverlust und die Fragwürdigkeit menschlicher Werte bilden. Die strukturellen Erfahrungen der Nachkriegszeit in Deutschland, die Familien auseinandergerissen, individuelle Biografien zerstört und traumatisierend bis in die dritte Generation der heutigen 30–40jährigen hinein wirken, haben eine eigene historische Struktur und eine je individuelle Gültigkeit, in der sich Resignation und Kreativität miteinander verbinden. „Jede seelische Realität“, so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer 2014 im Zusammenhang mit Nachkriegserfahrungen von drei Generationen in Deutschland, „hat ihre eigene Struktur und Gültigkeit. Voreilige Wertungen lassen sich relativieren, zerrissene Beziehungsfäden neu knüpfen, wenn sich die Generationen mehr füreinander interessieren und weniger überzeugt sind, dass ihre typische Wahrheit auch für die ältere oder die jüngere Generation gilt.“36
In der Erfahrung der Altersgelassenheit werden für die Nachkriegsgeneration psychologische Haltungen wirksam, die sich zwar aus der transgenerationellen Erfahrung einer traumatisierten Kriegsgeneration entwickeln, im Alter jedoch selbstreflexiv bearbeitet, bewältigt oder aufgelöst werden können.
Wolfgang Schmidbauer bezeichnet einen dieser Mechanismen, der die Generationenfolge von einer ersten, „verletzten“, über eine zweite, „überschätzten“ zur dritten, einer „entwerteten Generation“ strukturell vermittelt,37 in Bezug auf die überschätzte Generation, also in Bezug auf heutige Menschen des dritten Lebensalters, als „Protestidentifikation“.38 Nach Schmidbauer entsteht dieser psychische Mechanismus zwischen Eltern der Kriegszeit und ihren Kindern, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind (den heute 65- bis etwa 80jährigen) aus einer Gemengelage, die symbiotische Wünsche der Eltern mit Enttäuschungen der Kinder vermischt. In der Sozialisationstheorie spricht man von einem in den 1960er bis 1970er Jahren umstrittenen permissiven Erziehungsstil, dessen Anhänger vor dem Hintergrund der Frage nach der Angemessenheit der Ausübung von Autorität dafür plädierten, elterliche Eingriffe in die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu unterlassen.39
Daraus entwickelte sich familiär ein „symbiotisches Klima und dessen Abwehr“, das „kindlichen Aggressionsäußerungen wenig Raum“ gab, weil die Eltern auf die Kinder verwundbar und abhängig wirkten und die Kinder dazu neigten, den Eltern die Unselbständigkeit anzukreiden.40 Der Effekt in diesen Familien war, dass das Zusammenleben ohne Normsetzungen „zu Irritationen und Verwirrungen der Kinder“ führte und die Entwicklung der Selbstständigkeit der Kinder nicht gesichert war.41
Die „Doppelgesichtigkeit“ der Protestidentifikation, so Schmidbauer, in der ein heranwachsendes Kind sich „gleichzeitig mit den Werten der Eltern identifizieren und diese bekämpfen“ lässt,42 wird erst im Ablösungsprozess von den heranwachsenden