Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


Скачать книгу
die drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dialektik der adoleszenten Ablösung und der Geschwisteropposition strukturvermittelnd bis heute miteinander verknüpft,43 entsteht ein Beziehungsmuster „generationenübergreifender Übertragungen oder Antithesen“, die nicht nur Ängste aufgrund der modernen und zwischenzeitlich globalisierten Unübersichtlichkeit schürt, sondern zugleich ein brüchigen Selbstbewusstseins hervorbringt,44 dessen „Doppelgesichtigkeit der unbewussten Strukturfindung“ Nähe fordert und abwehrt45 und unter dem Mangel an Vorbildern, dem Mangel an äußeren wie inneren Wertstrukturen, an Sinndefizit, geschwächter Konfliktregulierung, ängstlicher Anpassung und innerer Leere leidet.46

      Die Identifikation mit dem Aggressor hingegen, dies ist die andere psychosoziale Haltung der Nachkriegsgeneration, führt zu einer Selbstfremdheit, die bewirkt, dass die Betroffenen sich in inszeniertem Gehorsam dem Autoritätsdiktat anpassen, zu dessen Opfer werden, den verdrängten Schmerz der subjektiven Entwertung und Selbstentfremdung als Schwäche empfinden und die aufgestauten Aggressionen hasserfüllt und gewalttätig auf Fremde verschieben.47

      Während die Identifikation mit dem Aggressor zu einem Verrat am Selbst, mit der politischen Konsequenz führt, kulturelle Gewaltverhältnisse zu stabilisieren, führt der psychische Mechanismus der Protestidentifikation in den 1960ger Jahren zu politischen Transformationsprozessen, in denen Persönlichkeitstypen, wie „Künstler, Helfer, Aussteiger und Opfer“48 gesellschaftliche Veränderungswünsche mit Sehnsüchten nach Stabilisierung im Modus einer paradoxen Autonomie verknüpften.

      Festigt sich dieser Mechanismus, dann kann es zu posttraumatischen Beziehungsstörungen und der mit ihnen einhergehenden Gefährdung der persönlichen Autonomie kommen. Diese beruht auf einer verstörten Orientierung an Konventionen, gegen die die Betroffenen einst rebellierten und bringt Erfahrungen einer „paradoxe(n) Autonomie“ hervor, die auf einer „Balance (von) Abhängigkeiten“ basiert.49 Die Bedürftigkeit nach äußerem Halt geht mit der Furcht vor diesem Halt einher. Es entsteht ein prekäres Gleichgewicht in der Persönlichkeitsstruktur, das, wenn es an die nächste Generation, die zwischen 1960 und 1985 Geborenen weiter gegeben wird, deren Autonomiemöglichkeiten gefährdet.50 Die Wurzel dieser Gefährdung liegt, so Schmidbauer, in Erfahrungen der Generation des Zweiten Weltkrieges, die ihre „inneren Verwüstungen“51 bis in die dritte, die Enkelgeneration, unbewusst weiter gibt, die dann unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden kann. Sie weisen auf frühkindliche Vertrauenskrisen zurück.

      Da nach Erikson Vertrauenserfahrungen von Kindheit an in allen späteren Lebensphasen und psychosozialen Krisen enthalten sind, sind die psychosozialen Haltungen der Protestidentifikation und der Identifikation mit dem Aggressor Symptome einer Vertrauenskrise, die in späteren Lebensphasen des erwachsenen und hohen Alters in die Persönlichkeit integriert werden können.52

      Die Phänomene der Leidabwehr oder der Protestidentifikation können sich, so die Traumatherapeutin Luise Reddemann, durch mitfühlende Reflexion, Freundlichkeit und Empathie zwischen den Generationen und einem „aktiven Bezug zur Vergangenheit“ lockern oder sogar lösen.53

      Bestätigt wird dieser Befund von Arno Gruen, der unter Berufung auf Erich Fromm und den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire die Überwindungsmöglichkeit des rebellischen Abhängigkeitsmechanismus in der Chance der inneren Aufhebung sieht, andere aus Protest zu beherrschen.54

      Für die heutige Generation des dritten Lebensalters werden konsequenterweise, trotz altersbedingter Einschränkungen, Erfahrungen der paradoxen Autonomie positiv als Freiheit zur Selbstbestimmung gesehen, die sich mit Altern, Hinfälligkeit, Abhängigkeit selbst- und mitverantwortlich gerotranzendent auseinandersetzt und sich der Furcht vor der Freiheit stellt.55 So haben persönliche Haltungen der Leidabwehr, der Identifikation mit dem Aggressor, der Protestidentifikation nicht unbedingt spätere seelische Krankheitshäufigkeiten zur Folge, sind aber als Erfahrungen anzusehen, die das Vorverständnis der Rezipient/innen strukturieren, mit denen sie die Romane Dickens‘, der Brontës und Virginia Woolfs erschließen.

      Im Alternsprozess der Nachkriegsgeneration können Ressourcen gewachsen sein, die eine durch Unsicherheit geprägte Identität in ihren positiven Aspekten dann stärken,56 wenn „Erinnerungen an Widerstand und Großherzigkeit“ gepflegt werden und an einer „Entidealisierung der Eltern“ gearbeitet wird.57

      Das dritte Lebensalter – so die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl – besitzt

      (…) eine ganz eigene Charakteristik, die sich vor allem in einer Sichtweise des Lebensphasenkontextualismus ergibt. Menschen in dieser Lebensphase sind entlastet von den Anforderungen des Berufs und verfügen aufgrund ihrer weiterhin hohen Kompetenzen sehr aktiv über die Ressource Zeit. Gleichzeitig stehen gerade in dieser Lebensphase Anforderungen der Hochaltrigkeit (‚Viertes Alter‘) vor der Tür.58

      Die soziokulturelle Realität in den dreißig Jahren zwischen 1945 und 1975, in der Menschen des heutigen dritten Lebensalters aufwuchsen, zeichnete sich durch eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung aus, die für eine vermutete Zunahme von psychischen Symptomen oder Erkrankungen verantwortlich gemacht werden könnte. Nach Martin Dornes führte dieses Klima jedoch „(…) nicht zu einer Erhöhung der kindlichen oder erwachsenen Krankheitshäufigkeiten im Bereich des Seelischen (…)“59, weil kollektive Gefühle zwar Stimmungen von Müdigkeit oder Ängstlichkeit erzeugten, nicht aber Angsterkrankungen.60 Dieser Zeitabschnitt und der ihm folgende in den 1980er bis 1990er Jahren stellte kompensatorische Möglichkeiten bereit, Krisen und Krisenerfahrungen „hinsichtlich ihrer symptomerzeugenden Kraft“61 zu mindern und zu bewältigen. Der Rückgang eindeutiger Orientierungen, die Lockerung von Traditionen, Entraditionalisierung mit wachsenden Freiheits- und Autonomiemöglichkeiten, führten zu erhöhter Flexibilität und schufen Grundlagen für „(…) Fähigkeiten wie Kreativität, Initiative, Ambivalenztoleranz und Komplexitätsbewältigung, die unerlässlich sind für die erfolgreiche Bewältigung des modernen Familien- und Arbeitslebens.“62

      Der Zugewinn an persönlicher Autonomie, den Erich Fromm Freiheit von nennt, ließ „Verdrängungen reversibler und weniger endgültig“63 werden, wodurch Freiheitsgewinne und Möglichkeiten entstanden, Gesellschaft und Kultur humaner und demokratischer zu gestalten. Beiträge zu diesen Prozessen leisteten auch die öffentliche Debatte um die erste Version der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und die Debatten um die Umgangsweisen der Schriftsteller Martin Walser und Günter Grass mit ihrer NS-Vergangenheit.64

      Mit Erfahrungen einer gefährdeten Autonomie,65 der die aus der Nachkriegszeit stammende Elementarspannung von Angst und Sicherheitsbedürfnisdurch durch das Auseinanderbrechen gültiger Ordnungsstrukturen und dem damit einhergehenden Wirklichkeitsverlust zugrunde liegt,66 kann durch den zeitlichen Abstand des Alternsprozesses bewirkt, eine Gelassenheit reifen, deren Grundstimmungen zwar Angst und die Suche nach Sicherheit ist, die aber der gesellschaftlichen Herabsetzung der Alten durch die Enkelgeneration und der „Misstrauenskultur gegenüber Älteren“67, mit kritischer Distanz, Humor, aktiver Imagination und einem durch Älterwerden gereiften Urteilsvermögen begegnen kann.68

      Durch diese Fähigkeiten öffnen sich Altersgelassenheit und Gerotranszendenz gegenüber Kunst, Musik und Literatur mit problemorientierten, Gefühle affizierenden Inhalten. Rezipient/innen des dritten Lebensalters können durch ihre Krisenkompetenz gegen das Schweigen ihrer Eltern69 offen sein und bereit, transgenerationale Dialoge zu führen, die der eigenen Stimme dieser Generation, wie auch den Zeitzeugen, „eine Gestalt zu verleihen“ vermögen.70

      Da aufgrund der prinzipiellen Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen die Offenheit Alternder neue Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick nehmen kann, können im dritten Lebensalter jugendliche Krisenerfahrungen der Protestidentifikation bzw. der Identifikation mit dem Aggressor in Generativität und Gerotranszendenz transformiert werden.

      Im „originelle(n) Gebrauch von Wissen und Strategien“, die zu „neuartigen Lösung(en) eines Problems“ führen, kommt eine „bejahende Einstellung zu Welt und Mensch, als ein grundlegendes Interesse an Menschen wie auch an Prozessen der Welt“ bei Alternden zur Geltung.71

      Zu dieser bejahenden Welteinstellung


Скачать книгу