Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm

Lesen im dritten Lebensalter - Hans-Christoph Ramm


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Utilitarismus, Egoismus und patriarchalisches Tugendsystem und der materialen Dimension, in Bezug auf literarische Texte, beispielsweise Romane mit problemorientierten Handlungen und spezifischen Lösungsvorschlägen zuordnen.

      Nach Nünning und Sommer fasst dieser Kulturbegriff Kultur als den „von Menschen erzeugte(n) Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen auf(), der sich in Symbolsystemen materialisiert.“4

      Nünning und Sommer schließen mit Posner, dass dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff zufolge künstlerische Ausdrucksformen der materialen Dimension ebenso zuzuordnen sind, wie die mentalen Dispositionen und die sozialen Dimensionen, die diese Ausdrucksformen hervorbrachten bzw. prägten. Da zwischen diesen drei Dimensionen komplexe Wechselwirkungen bestehen, ergibt sich für das Erschließen literarischer Texte aus einer bestimmten Kultur, in Bezug auf ihre Gehalte und Formen, dass sie in verdichteter Form „Aufschluss über die mentalen Dispositionen der entsprechenden Epoche geben“.5 Literarische Texte sind also nicht nur künstlerischer Ausdruck zeitgenössischen Denkens, sondern geben Aufschluss über die Selbstwahrnehmung und das kulturelle Bewusstsein einer Epoche, wie sie sich selbstreflexiv kulturdiagnostisch in den Werken als ästhetisch Besonderes thematisieren.

      Nünning und Sommer ziehen aus dem von ihnen konzipierten Gegenstandsbereich einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft drei Konsequenzen:

      1 Bei kulturellen Einheiten handelt es sich nicht um vorgefundene Objekte, sondern um menschliche Konstrukte.

      2 Wenn Literaturwissenschaft als Teil der Kulturwissenschaft verstanden wird, dann ist von einem weiten Literaturbegriff – Literatur als Teil der Medienkultur – auszugehen.

      3 Die Gegenstandskonstitution einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft ergibt sich aus den drei Dimensionen des Kulturbegriffs. Neben literarischen Texten berücksichtigt sie die mentale Dimension einer Kultur und die literarische Verarbeitung „gesellschaftlich dominanter Sinnkonstruktionen (…)“.6

      Die von Nünning und Sommer konzipierte kultursemiotische Theorie bietet Anschlussmöglichkeiten an die zentralen Kategorien Literatur, Mentalität, kulturelles Gedächtnis.7 Sie bietet zudem Anschlussmöglichkeiten an die rezeptionsästhetisch kontroverse Erschließung moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien. Diese werden als „kulturelle Ausdrucksträger“8 verstanden, die nicht Objekte, sondern „Formen der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung“9 einer Epoche sind. Sie können in der Interaktion mit Rezipient/innen kultursemiotisch reflektiert werden.

      Romane sind fiktionale Welten, Erzählwelten.10 Als das Andere der Realität entwerfen sie Möglichkeitswelten, die die kognitiven, imaginativen und affektiven Fähigkeiten ihrer Leser/innen ansprechen. Literarische Texte regen im Lektüreprozess ihre Leser/innen an, sich mit dem Selbst- und Weltverständnis der Figuren, ihren Gedanken, Gefühlen und Entscheidungen auseinanderzusetzen und damit „die Gefühle und Gedanken anderer zu erschließen“.11 Im Lektüreprozess baut sich die erzählerische Form der Selbst- und Weltbilder der Figuren und ihrer Interaktionen als Gegenentwurf zu ideologischen Mustern und begrifflichen Vereinnahmungen auf.12 Dieser Gegenentwurf zeichnet sich als Möglichkeitsraum aus, dessen Rätsel- und Fragecharakter die Erfahrungswirklichkeit seiner Leser/innen durch die Nähe zu ihrer Erfahrungswelt und durch die ästhetische Distanz seiner erzählerischen Gestalt, die diese Nähe ermöglicht, zum Ausdruck bringt.

      Die ästhetische Erfahrung „(…) gewährt den Leserinnen und Lesern auf dem Weg der Lektüre Anteil an anderen, entfernten oder fremden Welten und Denkvorstellungen und macht ihnen zugleich das Angebot, bisher ungewohnte oder, im wörtlichen Sinne, befremdliche Erfahrungen und Wahrnehmungen in ihr eigenes Denken und Handeln zu integrieren.“13

      Die Lektüre von literarischen Texten, insbesondere von Romanen, die „ihrer begrifflichen Monosemierung“14 widerstehen, kommt dem kulturellen und biografischen Bedürfnis seiner Leser/innen nach Antwortmöglichkeiten auf ihre Sinnfragen dadurch entgegen, dass die Leser/innen um die Differenz zwischen ihrer Lebenswirklichkeit und der erzählten Welt wissen. Diese grundsätzliche ästhetische Differenz evoziert literarischen Sinn.15 Sie besteht aus der erzählten Textur, die auf der Inhaltseben den Grundkonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft erzählsituativ, konfliktual differenziert und auf der Ausdrucksebene, der Ebene der erzählerischen Form, diesen Grundkonflikt in der Differenz zwischen der Erzählwelt und ihren Leser/innen metafiktional repräsentiert. Die Gesinnung zur Totalität, die Georg Lukács als Form des modernen Romans im Unterschied zum Epos bezeichnet,16 wird im Aufschub erfüllter Ganzheit, in ihren Episoden, Kontingenzen, in ihrer Weigerung rationale Gründe anzugeben, in der Isolation der Individuen, im gestalteten Chaos lebendig. Romane gestalten die Illusion, unerfüllte Sehnsüchte könnten künftig erfüllt, Liebende vereint werden. Es ist diese Illusion, die die Differenz zum Alltag der Leser/innen ausmacht, die die im Roman ersehnte Ganzheit belebt, „notwendige Voraussetzung der ‚Unbestimmtheit‘ (seiner) Einzelmomente“17 ist, ihm den Charakter des Fragments gibt, und die Ganzheitssehnsucht der Rezipient/innen in der modernen Welt affiziert.

      Die Lektüre der Romane Dickens‘, der Geschwister Brontë und Virginia Woolfs sprechen eine Generation an, die als Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkrieges von den Traumatisierungen ihrer Eltern und Großeltern in Mitleidenschaft gezogen worden ist, aber auch kreative Entwicklungsmöglichkeiten in der neuen Bundesrepublik hatte. Dickens‘, Brontës und Woolfs Romane öffnen ihnen imaginative Räume, die im Zusammenspiel von Identifikation und Distanzierung mit diesen Erzählwelten, Identitätsvorstellungen, Vorenthaltung von Identitätsmöglichkeiten, Ambivalenzen, Erfahrungen evozieren, die Potenziale transitorischer Identitätserfahrungen und narrativer Identität in den Verstehensprozess der Erzählwelt einflechten und Pathologien der modernen Gesellschaft aus der Perspektive viktimisierter Außenseiter oder hochindividuailisierter Einzelgänger erzählerisch erschließen lassen.

      Durch erzählerische Verfahren, die die Romane strukturieren – Erzählerperspektiven, Figureninteraktionen, Handlungsverwicklungen, Zeit- und Raumerfahrungen, Leerstellen –, entstehen strukturiert offene Textgewebe, die die Interaktionen zwischen diesen Texten als fiktionalen Möglichkeitsräumen und ihren Leser/innen als Frage- und Antwortspiel dynamisieren. In dieser Interaktion flechten sich Einstellungen der Leser/innen durch Rückgriffe auf ihr Erfahrungswissen in die Erzählgewebe ein und erlauben Einblicke in bislang unzugängliche menschliche Möglichkeiten. Im imaginativen und diskursiven Wechselspiel zwischen literarischen Texten und ihren Leser/innen entsteht durch irritierende Stellen, durch nonkonformistische Sinnentwürfe, durch die Vorenthaltung fixierbarer Erzählintentionen, eine „energetische Kraft“18, die den Deutungsprozess zwischen den literarischen Texten und ihren Leser/innen trägt, eine Vielzahl von Deutungen ermöglicht, zu Veränderungen der Selbst- und Weltbilder der Leser/innen und zu innovativen Deutungen der rezipierten Werke führen kann. Die Reflexion auf die erzählerische Textur, die sich in der ästhetischen Differenz zwischen erzählter Welt und der Erfahrungswelt der Leser/innen ausdrückt – sie wissen, dass sie Romane lesen – ist wesentlicher Bestandteil des Lektüre- und Verstehensprozesses, der Aktivierung narrativer Identitätsmöglichkeiten sowie der Reflexion auf transitorische Identitätserfahrungen. Diese wird durch Spielarten des Selbstentzugs, die die Romane verdichten, angeregt. Die Erzählwelten sind nicht auf ein Deutungsschema, beispielsweise auf melodramatisches Erzählen, festzulegen.

      In literarischen Werken begegnen wir „besonderen Orten, Augenblicken, Figuren mit Eigennamen, spezifischen Rede- und Handlungsweisen, Arten des Denkens und Fühlens“.19 Sinnlich wahrnehmbar, ästhetisch, ist darin die „imaginative Erfahrung des Besonderen als physischer Erscheinung und/oder inneren Konkretheit anstelle abstrakter Begrifflichkeit“.20 Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass wir literarische Texte aufgrund ihrer ästhetischen Differenz als kulturell vergangenheits- und zukunftsbezogene gestaltgewordene Ereignisse auffassen können, „bei (denen) unsere kognitiven, affektiven und evaluativen Fähigkeiten aktiviert werden“.21 Bei der Erschließung literarischer Texte aus früheren Epochen geht es also darum, ihre neue kulturelle Funktion in Bezug auf unser heutiges Selbst- und Weltverständnis zu verstehen.

      Fünf komplexe Problemkreise werden im Folgenden miteinander in Beziehung gesetzt:

      1 Kulturwissenschaftliche


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