Lesen im dritten Lebensalter. Hans-Christoph Ramm
sei, antwortet der britische Romancier Ian McEwan in einem mit Julian Barnes geführtem Werkstattgespräch: „Eine Erzählung soll uns das Universum aufschließen. Ungeachtet dessen, ob sie gut oder schlecht ausgeht.“20 Auf die Frage, welche Rolle Musik für ihn (McEwan) spiele und ob sie ihm „persönlich das Universum“ aufschließe, antwortet er, dass er vor seinem Studium besessen von Mendelsohns Violinkonzert gewesen sei, in der städtischen Bibliothek die Partitur gefunden und gelesen habe:
„Ich wollte verstehen“, so McEwan, „Wie hat er das gemacht? Wie kann einer dieses Wunderwerk an menschlicher Empfindsamkeit niederschreiben? Wie ist es möglich, dass jemand eine Sprache beherrscht, die solche Empfindungen festhält?“21
Bildende Kunst, Musik, Literatur der Moderne erhellen mit seismographischer Empfindlichkeit (Thomas Mann)22 die Ambivalenz, d.h. die Mehrdeutigkeit der Moderne und ihre divergierenden Deutungsmöglichkeiten. Ins Spiel kommt die von Auflösung bedrohte Kohärenz des modernen Subjekts, mithin die nie zu erreichende Ganzheitlichkeit des Menschen, für die er mit seinen Empfindungen und seiner Vernunft angesichts des Wegfalls übersinnlich-metaphysischer Gewissheiten einsteht.
Ins Spiel kommt zudem die Frage, ob nach dem Untergang der traditionellen Metaphysik ontologische Fragen überflüssig geworden sind? Walter Schulz löst in seinem Werk Metaphysik des Schwebens moderne Kunst aus ihrer Verklammerung mit traditioneller Metaphysik, um eine feststellende Ontologie zu vermeiden. Dabei stößt er auf die Frage, ob das Ende der traditionellen Metaphysik das Ende einer jeden möglichen Metaphysik überhaupt bedeute und ob sich nicht gerade in der modernen Kunst „Möglichkeiten zeigen, das Wesen der Metaphysik neu zu bedenken“?23
Schulz schlägt vor, die Zeitgemäßheit moderner Kunst in ihrer Negativität und Subjektivität zu deuten. Unter Negativität versteht er die „Aufhebung des Weltvertrauens zugunsten der Weltungesichertheit“. Subjektivität entspricht, so Schulz, der Erfahrung der Negativität. Subjektivität „(findet) in sich selbst keinen Halt und (hat) gerade darum die Tendenz (…), sich an die Welt, die auch keine Sicherheit bietet, zu verlieren.“24
Diesen Zustand wechselimplikativer Unsicherheit, den Zygmunt Bauman als Ambivalenzstruktur der Moderne und Jürgen Straub als Paradoxie transformatorischer Identität reflektieren, reflektiert Schulz in Bezug auf Erscheinungsgestalten moderner Kunst „als Zustand des Schwebens“25, im Sinne eines Verlusts von Festigkeit, Fraglosigkeit und Positivität. Ästhetisches Schweben ist nach Schulz eine dynamische Subjekt-Welt-Beziehung, die, da moderne Kunst nicht mehr metaphysisch fundiert ist, die „Möglichkeit heraufführt, das Schweben als legitime ‚Grundlage‘ der modernen Kunst zu bedenken.“26 Moderne Kunst als genuiner Ort einer Metaphysik des Schwebens verwebt im Gegenzug zu einer ontologisierenden Metaphysik, Schein und Sein, Wahrheit und Lüge, Anschauung und Reflexion. Werke der modernen Kunst und Literatur sind mehrdeutig. Sie sind ambivalent. In ihrem Rätselcharakter stellen sie Grundfragen an die Gegenwart und transzendieren, im Beleuchten unterschiedlicher Perspektiven und Sinnentwürfe empirische Erfahrungen, die das auf sich selbst zurück geworfene Subjekt betreffen. Sie gestalten, indem sie sie verweigern, eine schwebende, ästhetische Erfahrung des Trostes: „(…) ein wirklich großer Roman“, so McEwan in Bezug auf Cervantes und Gegenwartsliteratur, „hat etwas Ermutigendes, egal, wie finster die Welt ist, die er beschreibt.“27
Seit 1750 gestalten moderne Romane Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas, die vor dem Hintergrund der ersten Phase des Modernierungsschubes aus Genremischungen bestehen, mit dem sie Erwartungen ihrer Rezipient/innen transzendieren, darin transformatorische Identitätserfahrungen der Moderne affizieren und sich – wie auch moderne bildende Kunst – gegen den instrumentellen Charakter der modernen Warenwelt gerichtet, der Verwandelbarkeit metaphysischer Aspekte stellen: Aspekten des Heiligen, des Göttlichen, des Erhabenen, des Geheimnisses, des Bösen in seinen vieldeutigen Varianten, Aspekten des Todes, konventionsüberschreitender Liebes- und Kommunikationserfahrungen, den widersprüchlichen Aspekten des „Sorgenkind(es) der Moderne“28, d.i. des Subjekts, und dem Wagnis der Freiheit.29
Zygmunt Bauman definiert ambivalente Situationen als solche, in denen, im Versuch Ordnung herzustellen, herkömmliche bzw. erlernte Ordnungs- und Sprachmuster nicht greifen. Es entstehen Kontrollverlust, ein Gefühl der Unentscheidbarkeit und Unentschiedenheit: „Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während Zufälligkeit, die doch eigentlich durch Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint.“30
Baumans Buch stellt, wie auch das Werk Walter Schulz‘, die Moderne als vergeblichen Versuch dar, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen; vergeblich deshalb, weil die ineinander greifenden funktionalsierten Systeme Kontingenzen enthalten, die Ordnungsversuche immer wieder unterlaufen und Individuen in der funktionalen Differenzierung der Systeme sozial ortlos werden lassen. Das Individuum wird vieldeutig ambivalent, „ein partieller Fremder“31, oder, wie Walter Schulz formuliert, scheiternd und haltlos „bis zu den Erfahrungen der Selbstauflösung hin“32. Beide Autoren, der Soziologe und der Philosoph, verwenden u.a. Franz Kafkas Werke – Walter Schulz bezieht sich auch auf James Joyce – als Belege einer ästhetisch transzendenten Immanenz der Moderne.
Der moderne Roman als offenes Genre – er ist „a mighty melting pot, a mongrel among literary thoroughbreds“33 – spricht, indem er sie narrativ gestaltet, die Ambivalenz der Moderne als Daseinsdiffusion und die aus ihr folgenden transitorischen Identitätserfahrungen der Rezipient/innen an. Er gestaltet als narrativer Kosmos Sinnfragen, er findet sie nicht.
Rezipient/innen, insbesondere die des dritten Lebensalters, werden in ihren aspirierten imaginativen Identitätsmöglichkeiten von modernen Romanen affiziert. Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, des Selbstentzuges, der Autonomiebildungsmöglichkeiten, der Selbstranszendierung, der Gerotranszendenz, werden anhand der Konflikt- und Dilemmasituationen, in die die Erzählfiguren verstrickt sind, virulent. Immer geht es den Romanen um eine verdichtete Vergegenwärtigung von Vergangenheit, um eine an scheiternden Lebenserfüllungen orientierten Ganzheit,34 die transitorisch zukunftsoffen gestaltet ist:
The novel presents us with a changing, concrete, open-ended history rather than a closed symbolic universe. Time and narrative are of its essence. In the modern era, fewer and fewer things are immutable, and every phenomenon, including the self, seems historical to its roots. The novel is the form in which history goes all the way down.35
Moderne Romane sind unterhaltsame, erkenntnisfördernde Gedächtnismedien, deren Erzählwirklichkeit als „subjektiv entworfene Welt()“ in der „subjektiven Brechung“ des Erzählers und der Romanfiguren entsteht.36 Diese subjektiven Erzählwirklichkeiten sind als moderne Gedächtnismedien zu verstehen: „The novel is the mythology of a civilization fascinated by its own everyday existence.“37 Die kulturgeschichtlich transitorische Offenheit moderner Romane öffnet ihren Protagonisten prekäre Freiheitsspielräume, in denen konstitutive Identitätserfahrungen des Selbstentzugs gestaltet werden:
Modern subjects, like the heroes of modern novels, make themselves up as they go along. They are self-grounding, and self-determining, and in this lies the meaning of their freedom. It is, however, a fragile, negative kind of freedom, which lacks any warranty beyond itself.38
1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Die Rezeption moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien
Bei der Erschließung literarischer Texte sind diese nicht nur als Texte zu berücksichtigen, sondern auch als kulturelle Institutionen ihrer Entstehungszeit. Literarische Texte sind aufgrund ihrer spezifisch ästhetischen Differenz zwar Teile kultureller Ordnungen, aus denen sie hervorgehen, sie wirken aber auch auf diese zurück und sind zukünftig erschließbar. Geht man mit Ansgar Nünning und Roy Sommer von einem Kulturbegriff aus, der „semiotisch(), bedeutungsorientiert() und konstruktivistisch()“ ist,1 dann sind Kulturen, in Anlehnung an Roland Posners Kulturmodell, menschlich hergestellte Gebilde, die „nicht nur eine materiale Seite haben, sondern auch eine soziale und mentale“.2
Modellhaft formuliert lassen sich der sozialen Dimension Individuen, Institutionen und Gesellschaft, der mentalen Dimension Mentalitäten, Selbstbilder, Normen und Werte und der materialen Dimension Gemälde, Architektur, Gesetzestexte